Fremdes Licht
sollte Ayrid darauf sagen? Die beiden Frauen wichen vom
Fluß ab und steuerten auf den Hügel zu, auf dem die Graue Mauer thronte. Der Boden stieg an, und es dauerte nicht
lange, da hatte Ayrid alle Mühe, keuchend und schnaufend mit
Jehanna Schritt zu halten. Die Jelitin bewegte sich
leichtfüßig, kaum daß Ayrid sie atmen
hörte.
Einmal blieb Jehanna stehen, beschattete die Augen und blinzelte
in die Sonne; vermutlich wollte sie prüfen, ob Frühmorgen
zu Ende war und Lichtschlaf begonnen hatte. Ayrid hatte keine Ahnung,
woran das zu erkennen war. Als Stadtfrau war sie es gewohnt, sich an
den Glockenschlägen von Delysias Türmen zu orientieren. Sie
war nicht wirklich schläfrig, dachte sie grimmig, wiewohl sie
sich am liebsten hingelegt und geschlafen hätte.
Die Sonne wurde heißer. Die zartesten unter den Wildblumen,
die mit der Dämmerung erwacht waren, verschlossen sich vor dem
grellen, steilen Licht. Pflanzen, die Ayrid noch nie zuvor gesehen
hatte, öffneten sich dagegen weit: große, gähnende
grüne Münder, die das Sonnenlicht des heranrückenden
Mittags wie Wasser tranken. Eine besaß in der Mitte eine
Öffnung, umgeben von einem klebrigen Wulst, der mit Kränzen
aus stachligen Blättern besetzt war. Ayrid gewahrte, wie sich
der Wulst hob und senkte, in einem lautlosen Rhythmus, als sei
Sonnenschein Musik. Sie wandte den Blick ab.
Zweimal waren andere an ihnen vorbeigekommen, eine Gruppe, die zur
Mauer unterwegs war, und eine, die von dort zurückkam; beide
Male war Jehanna peinlichst bedacht gewesen, den anderen nicht zu
nahe zu kommen, um sie nicht anhand von Kleidung oder Sprache
identifizieren zu müssen, oder weil sie selbst unerkannt bleiben
wollte. Sie war auf ihrer Spur zurückgegangen und in weitem
Bogen auf die direkte Route zurückgekehrt, wodurch sie Stunden
verloren hatten. Ayrid hatte nicht protestiert. So sehr sie auch
schwitzte und am Rande der Erschöpfung war, sie machte nicht
schlapp. Jehanhas Gesicht sah hart und so trocken wie der heiße
Boden aus, und ihre schwarzen Augen musterten unablässig die
Landschaft, nichts entging ihnen.
Am Fuß des Hügels, auf dem die Graue Mauer stand, begann ein ausgetretener Pfad, doch als die beiden Frauen
ihn erreichten, lag er verlassen da. Dank Jehanna. Der Pfad
schlängelte sich steil aus der Savanne den Hügel hinauf.
Von hier unten war der Rand der flachen Kuppe nicht zu sehen, und von
der Grauen Mauer lugte nur der oberste Grat heraus. Jehanna
starrte eine Weile auf den grauen glänzenden Strich zwischen
Himmel und Hügel, dann nahm sie Haltung an und wandte sich an
Ayrid.
»Wir führten dasselbe Schwert, verbunden durch die Ehre
des Lebens. Was großzügig gewährt wurde, das ist
großzügig erwidert worden. Kraft ist mit Kraft vergolten
worden; die genannte Gegenleistung ist erbracht, meine Verantwortung
für dich erlischt. Habe ich recht, Delysier?«
»Du hast recht. Ich heiße Ayrid.«
»Was geht mich das an«, sagte Jehanna und spuckte aus.
Dann war sie auf und davon, stieg mit federnden Schritten
hügelan und verschwand schließlich hinter dem Rand der
Kuppe.
Ayrid folgte ihr mühsam, stemmte sich vornübergebeugt
Schritt um Schritt nach oben, stieß ihren Reisesack über
den Rand und zog sich auf die Kuppe. Als sie auf ebenem Boden stand,
hielt sie Ausschau nach Jehanna. Vergebens.
Das Plateau war viel ausgedehnter, als sie erwartet hatte. Das
Gras war niedrig und sah frisch aus. Andere Pflanzen gab es hier
nicht – als ob, dachte Ayrid verstört, die wildesten
Gerüchte recht behielten und die Glätte des Bodens
denselben Ursprung hatte wie die der Mauer und die Pflanzen weniger
als ein Jahr gehabt hätten, um auf neuem, leerem Boden zu
gedeihen. Die Graue Mauer erstreckte sich nach beiden Seiten,
und Ayrid konnte von ihrem Standpunkt aus eine Ecke sehen, so scharf
und präzise wie geschliffenes Glas. Lief die Mauer im Rechteck?
War das ein Kubus?
Eine Gestalt, zu weit weg, um sie erkennen zu können, bog um
diese Ecke, hielt inne, wich zurück und verschwand wieder.
Angst, fuhr es Ayrid durch den Kopf. Vor mir. Sie
hielt sich die Hand vor den Mund und lachte unsicher. Dann schulterte
sie ihren Sack und ging auf die Mauer zu.
Die türmte sich zehnmal so hoch auf, wie Ayrid groß
war. Das schwach schimmernde Material sah aus wie ein erlesenes
Metall, doch Ayrid bemerkte, daß sie es nicht berühren
konnte. Ihre Finger wurden aufgehalten, den Daumennagel eines
Säuglings breit über der schimmernden Fläche durch
irgendein
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