Fremdes Licht
Frau lächelte, als Ayrid ihre Kochkunst
lobte, und dieses Lächeln verlockte Ayrid unvermittelt zu der
Frage: »Warum sind diese Leute alle hier? Und du, was hat dich denn hierher verschlagen?«
Das Lächeln der Frau erstarb. »Warum fragst
du?«
»Nur so. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Die Frau starrte sie an, dann zuckte sie die Achseln. »Kann
man sehen, wie das Leuchtfeuer untergeht? Ich bin mit ihm da
gekommen.« Sie wies mit der Schöpfkelle auf eine Gruppe von
Männern, die ruhig beisammensaßen und sich leise
unterhielten, ohne das Portal von R’Frow aus den Augen zu
lassen.
»Und er?«
»Wegen der Edelsteine natürlich. Wo sonst kriegt man
schon solche Edelsteine geschenkt? Aber jetzt«, sagte sie
verbittert, »will er nicht reingehen. Wie der ganze Haufen da
drüben. Er sitzt bloß da und glotzt. Hat den Mut verloren
und dazu noch seine Männlichkeit. Er macht sich nichts aus mir
und macht sich nichts aus anderen Frauen. Aber ich sitz hier
fest.«
»Du kannst doch zurück nach Delysia.«
Die Frau hob die Schultern. »Ach, weißt du, so schlimm
ist das hier nun auch wieder nicht. Keine Steuereintreiber, kein
Stadtrat. Viel Platz.«
»Warum gehst du nicht einfach selbst durch die
Mauer?«
»Nein! Nicht mal für einen Kessel voll Edelsteine!
Sprechende Städte, das ist nichts für mich.«
»Was soll diese Stadt?« sagte Ayrid bohrend. »Wer hat sie gebaut, was meinst du?«
»Sei still! Das Tor geht auf!«
Das Lager verstummte. Die Leute drängten zum Rand des Lagers,
da wo es der Mauer am nächsten kam, strömten aus den
Schuppen, um zuzusehen, alle mit ernsten, gespannten Gesichtern. Nur
das Knistern der Feuerstellen unterbrach die atemlose Stille.
Und in diese Stille hinein sprach die Mauer: »Das ist die
Stadt R’Frow. Ihr wollt eintreten. Nur ein Menschenwesen
kann jetzt durch dieses Tor gehen. Ihr werdet geprüft. Wer die
Prüfung besteht, kann R’Frow betreten. Wer eintritt, wird
ein Jahr lang bleiben. Niemand, der eintritt, wird R’Frow
früher verlassen. Jeder, der R’Frow betritt, bekommt
Edelsteine, neue Waffen und neues Wissen geschenkt. So spricht die
Stadt R’Frow.«
Ayrid fröstelte unter der heißen Sonne. Niemand, der
eintritt, wird R’Frow früher verlassen.
Die Mauer wiederholte ihre Botschaft. Und als sie anhob,
löste sich das nächstgelegene Tor auf. Es gab kein anderes
Wort dafür – jetzt war das Tor noch da, im nächsten
Augenblick war es verschwunden. Ayrid reckte sich und sah einen
kurzen Korridor, der im rechten Winkel abknickte, so daß man
nichts als blanke graue Wand sah.
Ein Arm fuhr in die Höhe. »Einhundertvierzehn!«
kreischte die Bril und wedelte mit einem numerierten Stein.
»Losnummer einhundertundvierzehn!«
Ein Mann drängte sich vor und trat in den freien Streifen
zwischen Lager und Mauer; es war der, auf den die Frau mit der
Schöpfkelle gezeigt hatte. Ayrid hörte, wie sie scharf Luft
holte. Der Mann schulterte ein schmuddliges Bündel und machte
sich auf den Weg. Alle Blicke hingen an ihm: habgierige und
ängstliche, mitleidige und eifersüchtige, berechnende und
verächtliche. Die Mauer wiederholte die Botschaft jetzt zum
drittenmal. Der Mann hatte es nicht eilig.
»Schneller!« schrie jemand.
Auf halbem Weg zum Tor stockte der Mann. Er drehte sich um und
lief den Weg zurück, in komischer, gebückter Haltung,
derweil die Furcht in seinem Gesicht bereits in mutlose Verzweiflung
umschlug.
Die Frau mit dem Eintopf benutzte den angestauten Atem für
eine ellenlange Verwünschung. Das Lager erwachte wieder zum
Leben. Die Bril stieß ein kurzes belferndes Lachen aus. Der
Mann sackte auf seinem alten Platz zusammen und vergrub das Gesicht
in den Händen.
Ayrid starrte auf die Mauer. Das Tor hatte sich nicht geschlossen,
und trotzdem war es wieder zu, das graue Material war so
plötzlich wieder da, wie es zuvor verschwunden gewesen war. Sie
kämpfte ein heftiges Schwindelgefühl nieder und wandte sich
an die Frau dieses Mannes. »Wie geht das vor sich, wie
schließt sich das Tor? Wie…?«
Doch die Frau, die mit ihrer Enttäuschung rang, wehrte mit
einer kurzen Handbewegung ab.
Ayrids Hand krampfte sich um den Stein, der ihre Losnummer trug.
Die Kanten waren scharf, und der Schmerz half ihr, die Angst zu
beherrschen.
Geister von der Toteninsel. Nein. Aber wer dann?
»Wie viele sind denn schon durch die Tore gegangen?«
wollte Ayrid wissen. Doch die Frau rührte zornig ihren Eintopf
um und stellte sich taub.
5
lm Laufe von
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