Fremdkörper
lachen hat. Die gibt es häufiger: Frauen, die ihre wertvolle und ohnehin so sparsam rationierte Energie und auch viel Zeit damit verschwenden festzustellen, wie wenig sie von beidem haben. Statt das Ziel, geheilt zu werden oder zu bleiben, oder einfach so lange wie möglich noch zu leben ins Auge zu fassen, haben sie es sich in ihrer Krankheit dermaßen gemütlich gemacht, dass ich manches Mal glauben möchte: Die wollen gar nicht gesund werden. Und wenn sie es nicht mehr werden können, wenigstens kämpfen. Für die kostbare Zeit, die noch bleibt. Egal, auf welche Uhrzeit der mittlerweile sehr alte Herr da oben den letzten Weckruf gestellt hat. Und wenn ich die Umstände in Betracht ziehe, in denen sich manch eine jener Patientinnen befindet, kann ich sogar nachvollziehen, warum. Das hat nichts mit Charaktermerkmalen oder Wesenseigenheiten zu tun. Ganz generell gilt – so denke ich: Krank sein, so schwer krank sein, ist eine echte Versuchung. Noch teuflischer als der Apfel in Eden damals. Denn: Von den zerstörerischen, entarteten Zellen mal abgesehen, bringt der Krebs diesen Frauen, und im Übrigen auch mir, viel Schönes. Wirklich wahr. So schwer vorstellbar das klingen mag. Viel Zuwendung und Mitgefühl zum Beispiel. Von der Familie und Freunden. Sofern vorhanden. Außerdem aufmerksame Ärzte. Ja, meistens mehrere. Schwestern, die sich manchmal besonders freundlich, zumindest aber höflich, kümmern. Und – die diabolischste unter den Verlockungen – die Krankheit taugt als Entschuldigung für fast alles. Übellaunigkeit, Unzuverlässigkeit, Egoismus. Nicht, dass das alles nicht tatsächlich auch zeitweise seine Berechtigung hätte. Aber doch nur, solange die Seele diese unsoziale Phase zum Regenerieren und zur Vorbereitung des Wiedereintritts in die gesellschaftsfähige, gesellige Atmosphäre braucht.
Vielleicht habe ich leicht reden. So genau habe ich dem Tod noch nicht ins Gesicht geschaut. Und ich hoffe auch, dass ich es so schnell nicht wieder muss. Aber ich habe auch einige unheilbar an Brustkrebs erkrankte Frauen kennengelernt, die alle ihre Fäustchen gehoben haben. Sie werden sterben. Ja. An Brustkrebs. Ja. Vielleicht morgen. Vielleicht aber auch erst in 20 Jahren. So weit ist die Medizin. Und deshalb boxen sie zurück. Immer und immer wieder. Und sie werden einfach nicht so schnell geschlagen. Das ist ein Fakt.
Aus den Begegnungen mit den Frauen in der Chemo-Ambulanz habe ich mir mit der Zeit meine eigenen Patientinnen-Profile zurechtgelegt. Das hielt bis jetzt allen Überprüfungen stand. Dennoch: logischerweise keine Regel ohne Ausnahme. Ich gestatte mir ja auch nur deshalb eine gewisse Schonungslosigkeit und – ich gebe es ungern zu, aber es ist nun mal so – Arroganz, weil 95 Prozent aller Frauen, die mit mir behandelt werden, dauerhaft geheilt werden und bleiben. Hat mir Schwester Carla gesagt.
Der komplizierteste Umgang ist sicher der mit »Gertis«. Ein anstrengender Typ Patientin, ich nenne sie IDÄs. Weil sie theoretisch jeden Satz anfangen könnten mit: Ich, die Ärmste. Fällt mir schwer, mit diesen Frauen umzugehen. Weil es mich selbst so deprimiert und runterzieht. Wenn der Tag sonnig und strahlend angefangen hat, kann es nach einer IDÄ-Begegnung auch schon mal frühzeitig finster werden – um zwei Uhr mittags. IDÄs sind ziemliche Batteriefresser. Denn jeder Versuch der Ermunterung oder Ermutigung wird bellend abgeschmettert. Klar. Will ja keiner hören. Ist so schön kuschelig in diesem dunklen, engen Brunnen. Solange nur genug Leute oben stehen, immer wieder nach unten schauen und hin und wieder auch was Liebevolles rufen oder Hübsches runterwerfen. Mein Akku ist schnell leer, wenn IDÄs in der Nähe sind. Darum habe ich mir angewöhnt, ihnen aus dem Weg zu gehen. So gut das klappt.
Eine andere Spezies von Patientinnen sind die IMAs – Ich mache, aber ... Das sind diejenigen, die zwar immer sagen, wie sehr sie sich zusammenreißen und kämpfen wollen, aber: Es gibt immer ein »Aber«. Immer einen Grund, warum dieses oder jenes eben doch nicht geht. Letztlich sind sie den IDÄs gar nicht so unähnlich. Mit einem Unterschied: Sie wissen, dass sie sich nicht hängen lassen und jammern sollten. Dass damit niemandem geholfen ist. Am wenigstens ihnen selbst. Darum reden sie sich selbst und allen anderen um sich herum ein, dass sie ja schon alles Menschenmögliche machen. Aber das »Aber« ... Auch eine kraftraubende Angelegenheit, IMAs ständig zum Handeln zu motivieren. Dabei
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