Fremdkörper
unwohl in meiner Gegenwart fühlen könnten. Ich sehe die fragenden Gesichter bildlich vor mir. Darf ich sie darauf ansprechen? Wie es ihr wohl wirklich geht? Ist das schon eine Perücke oder noch ihr echtes Haar? Peinliche Gesprächspausen, gesenkte Blicke, hilfloses Kichern – alles vorprogrammiert. Es sei denn: Ich mache mich locker. Mal wieder. Dann können es die anderen auch sein. Mal sehen, ob das funktioniert.
Ich habe mein Locker-machen-Mantra noch nicht ganz zu Ende gedacht, da biegen wir schon um die Ecke, hinter der uns der Ort der Feierlichkeiten erwartet. Ich werde spontan ziemlich unlocker. Ein Schloss. Die feiern in einem richtigen Schloss. Wie im Märchen. Eine prachtvolle Hofvorfahrt. Eine breite Treppe führt zum Entree. Durch die Empfangshalle kommen wir auf eine wunderschöne Steinterrasse, von der aus man in unendliche, grüne Weiten blickt. Was für ein schöner Park, in dem bunte, edle Blumenbeete die Wege säumen. Und links und rechts eng gepflanzte Baumgrüppchen, die zum heimlichen Knutschen einladen, wenn ich nicht schon längst ganz unheimlich knutschen dürfte. Das Ambiente dieser deutsch-französischen Hochzeit ist in dem Maße luxuriös, in dem ich mich an nicht so tapferen Tagen schäbig fühle. Hilft ja nichts. Jetzt sind wir hier. Also Schultern zurück, Brust und Zähne zeigen und rein ins Gewühl.
Zwischen: »Bonjour, ça va?«, und »Schön, dich hier zu treffen«, werden exquisite Häppchen gereicht. 90-60-90 Portionen. Nichts zum Dick- werden. Auf Silberlöffeln. Und teuerster Champagner. Da huscht mir ein kurzes Bedauern übers Gemüt: So etwas Edles hätte ich schon gerne probiert. Der Gedanke wird abgelöst: »Ach, was soll es. Übungseinheit in schwanger zu sein.« Das klappt besser, als ich das in diesem Moment wahrhaben will. Denn schnell hat sich ohne mein Kundtun unter einigen der Gäste die Kunde verbreitet, dass bei der Pielhau » ... was Kleines unterwegs sein könnte. Die trinkt ja nur Pfefferminztee.« Ich dementiere nicht sofort, weil mir der Gedanke deutlich besser gefällt als der eigentliche Grund und Hintergrund der Abstinenz.
Die Zeremonie hat den zauberhaften Charme einer Wiesenhochzeit im Feenwald. Im Park sind an einer lauschigen Stelle mit weißen Hussen überzogene Stühle aufgereiht. Durch den blumenumrankten Torbogen schreiten – ja, ich habe es mit eigenen Augen gesehen – Dornröschen und ihr Prinz. So müssen sich die Grimm-Brüder die beiden jedenfalls ausgemalt haben, da bin ich mir extrem sicher. Es wird mucksmäuschenstill, als sich der Pfarrer der entscheidenden Textstelle nähert. Bei der so wichtigen, millionenmal gesprochenen Zeile »in guten wie in schlechten Tagen« hält mich beziehungsweise meine Tränen nichts mehr. Kuller, kuller bei mir. Während alle anderen noch die Taschentücher in Warteposition an der Wange halten. Die Rührung hat Räson: nicht nur, dass der Eheschließungsakt als solches hier so vollendet romantisch zelebriert wird. Ich hänge außerdem kurz in meiner Erinnerung an Thoms und meinem eigenen Versprechen. In guten wie in schlechten Tagen. Er drückt meine Hand. Zweimal kurz. Unser geheimes Morse-Alphabet. Heißt so viel wie: »Die guten kommen wieder. Die schlechten liegen hinter uns. Wir schaffen das. Ich liebe dich.« So in etwa.
Das Fest wird rauschend. Wenngleich ohne Rausch. Für mich. Ansonsten steigt der Alkoholpegel. Und die Unsicherheiten fallen. Wenn es Anspannung oder Ängste gab, weil keiner wusste, wie mit mir reden, umgehen, sein, so ist davon um 23 Uhr nichts mehr zu spüren. Parliere hier, plaudere da. Freue mich über gelöste, gelungene Gespräche. Buff. Alle Sorgen, auch meine, in Luft aufgelöst. Wie zur Bestätigung dessen um Mitternacht der Höhepunkt. Die besten Freunde des Brautpaares schießen nämlich ihr Geschenk in die Luft: ein fulminantes Feuerwerk. Mit Goldregen, Raketen in allen Nuancen des Regenbogens und Leuchtspiralen, die den Himmel glitzern und bunt leuchten lassen. Und das im Rhythmus zu opulenter, wummernder Musik. Ich finde den Augenblick passend für Silvestergefühle – mitten im Mai. Das Alte und Schlechte geht. Das Neue und Gute kommt. Und bleibt. Bitte.
26.
MFG (Woche 6)
Mit der Chemo ist es wie mit Chilischoten: Von Mal zu Mal vertrage ich sie besser. Absurd eigentlich. Denn die Masse an Medikament in mir wird ja eher immer mehr. Nicht hinterfragen, dieses Phänomen. Stattdessen lieber klaglos über die angenehme Entwicklung freuen. Endlich nicht mehr wie
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