Fremdkörper
hochgezogenen Augenbrauen erkennen lässt. Sie sieht aus wie eine Gertraud. (Alle lockeren, lässigen Getrauds mögen mir bitte verzeihen.) Und Freunde sagen wahrscheinlich Gerti. Gertraud, Gerti hat die Arme vor dem Oberkörper verschränkt und starrt mit zusammengekniffenen, kleinen Äuglein aus dem Fenster. Fehlt nur noch die bebende Unterlippe. Ich hebe meine Hand eilig zum Mund und tu so, als würde ich mir Krümel aus den Mundwinkeln streichen. Damit sie nicht sieht, wie ich über die Schmollszene grinsen muss. Manche Muster ändern sich eben nie. Auch nicht, wenn man schon die zweite Hälfte des Lebens erreicht hat.
Die zweite Hälfte des Streitduos, eine Patientin vis-à-vis, hat sich wieder ihrer Gartenwoche zugewandt. Sie trägt eine helle, halblange Stufenschnitt-Frisur. Mit sehr feinen, weißblonden Strähnchen. Die Perücke hat noch einen Pony, der ihr ins recht hübsche, feine Gesicht fällt. Die Dame ist vom Typ Studienrätin. Ich würde sagen Französischlehrerin. Die von der coolen Sorte, die man immer gerne mit auf der Klassenfahrt dabei hatte, weil sie mehr erlauben als die anderen aus dem Kollegium. Sie wird irgendwas zwischen 50 und 60 Jahre alt sein. Und ich habe den Verdacht, es mit einer Ingrid zu tun zu haben.
Gertraud kommt plötzlich zurück ins Spiel. »Außerdem war meiner schon vier Zentimeter groß.« Vier Zentimeter. Aha. Vier Zentimeter von was? Etwa von ihrem Tumor? Ingrid lässt leicht genervt die Zeitschrift sinken: »Ich hatte doch auch so einen Oschi. Und noch einen zweiten, kleineren daneben.« Die reden vom Tumor. Gerti gibt nicht auf: »Jahaaa. Aber Sie haben Ihre Brust doch noch. Meine musste abgenommen werden.« Ingrid retourniert: »Stimmt doch gar nicht. Meine doch auch. Da nehmen wir uns nicht viel.« Ich schiele zu Gertraud. Da muss noch etwas kommen. Auf, Gerti, einen Trumpf hast du doch bestimmt noch im Ärmel. Unvorstellbar genug, dass hier ein Wettbewerb um den schwerer wiegenden Befund gestartet wurde. Aber wie ich feststellen soll, ist das unter Krebspatienten ein zwar geschmackloser, aber sehr beliebter Zeitvertreib. Gertraud hebt das Kinn kurz und fragt: »Lymphknoten?« Ingrid gibt sich vorzeitig geschlagen: »Nein. Keine befallen.« Gerti nickt, sichtlich erleichtert: »Bei mir auch nicht.« Ingrid seufzt. Sieht nach einem Unentschieden aus.
»Und Sie?« Huch. Das ging an mich. Ziemlich unerwartet und auch ziemlich unerwünscht soll ich in dieses hirnrissige Gespräch integriert werden. »Alles zu bewältigen. Nicht so dramatisch. Hauptsache, jetzt durch die nächsten Monate kommen und keine schlechte Laune bekommen von der Chemo.« Oh, oh. Das hätte ich nicht sagen sollen. Gertraud, die Grantige, ist zurück im Ring: »Sie haben leicht reden. Sie sind ja noch blutjung. Da steckt man das leicht weg. So was.« In mir ärgert sich was. »Nun ja. So was ist Krebs. Auch bei mir. Und ich versuche schon mein Quäntchen dazu beizutragen, dass der Allgemeinzustand überwiegend fröhlich bleibt. Zum Beispiel viel Sport ...« Prompt hat Ingrid ihren Beobachterposten aufgegeben. Mit dem Magazin in der Hand fuchtelt sie Gerti entgegen: »Sehen Sie? Sag ich doch. Das bringt nichts, sich den ganzen Tag im Bett zu verstecken. Sie müssen den Hintern hochkriegen. Das ist auch für die Psyche gut.« Ui. Gertraud hat mittlerweile einen farbenfrohen Bluthochdruck-Teint. »Ach, Tsyche«, und einen Sprachfehler. »Tsyche. Ich weiß, was für meine Tsyche was ist. Und Sie wissen ja gar nicht, wie schlecht es mir von dem Zeug geht.« Die Augen weit aufgerissen, mit den Armen wedelnd, landet sie mit ihrem aufgebrachten Gesicht schließlich bei mir: »Und wenn das sowieso nicht so schlimm ist bei Ihnen ... was kriegen Sie da überhaupt?« Ich schaue mir meine Safttüten an. Doch bevor mir irgendeine friedenstiftende oder wenigstens diplomatische Antwort einfällt, höre ich Schwester Carla aus dem Türrahmen flöten: »Die dreifache Dosis von dem, was Sie beide kriegen. Die Frau Pielhau kriegen wir schon noch kaputt.« Ich lache. Sie lacht. Ingrid schmunzelt. Gerti schmollt. Das ist irgendwie nicht so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt hat, vermute ich.
Während das Herz sich langsam wieder im guten Frequenzbereich befindet, ganz anders als der schreckliche Radiosender, hänge ich diesem Gespräch nach. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so einer Gertraud begegne. Eine, die es natürlich immer am schlimmsten getroffen hat, die am meisten leiden muss und am wenigsten zu
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