Fremdkörper
4 chemische Kriege, Rassenkonflikte laufen in Spur 5, auf Bahn 6 AIDS. Die Dimension dieses Gedankens, ein Rennen der Massenmörder der Menschheit, lässt mein eigenes Schicksal sehr klein und sehr unbedeutend erscheinen. Allein in diesem Jahr 2008 sind so viele furchtbaren Katastrophen passiert: der Zyklon über Burma, das Erdbeben in China. Wie relativ ist in Anbetracht von über 220 000 Toten und vielen Millionen Menschen, die kein Zuhause und keinen persönlichen Besitz mehr haben, die eigene Geschichte? Tja, Antwort überflüssig. Natürlich sehr, sehr relativ.
Und so bin ich – relativ – fix wieder im grünen Bereich angekommen. In meinem persönlichen. Und auch im Innerstädtischen, in dem ich immer meine Runden drehe. Eine gute halbe Stunde liegt hinter mir und langsam zeigt die Bewegung Wirkung. Aus welchen Zutaten auch immer der Hormon-Shake besteht, den mein Körper gerade zu trinken bekommt, er macht glücklich. Die Sonne trägt ihren Teil dazu bei. Meine Lieblings-Beats puckern sich in meinen Kopf. Ich lächle die kleinen Kinder, alten Menschen oder Hunde an, mit denen ich mehrfach fast kollidiere, und laufe gemütlich eine meiner längeren Strecken. An einer Gabelung entscheide ich mich kurzerhand für die Erschließung von neuem Terrain und wähle den Weg eine Anhöhe hinauf, wo ich bisher noch nicht war. Das ist anstrengend und aufregend. Anstrengend wegen 17 Prozent Steigung. Aufregend, weil hinter jeder Kurve das große, grüne Ungewisse lauert. Genau das macht ja so Spaß. Oben angelangt, überwältigt mich zwar kurz das Gefühl, dass die Bezwingung des Mount Everest nicht erhebender hat sein können. Doch dem Höhenkoller nicht vollends verfallen bin ich kurz später erstens wieder wohlbehalten am Fuß des Bergs und zweitens auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Obwohl ich bis jetzt schon ein löbliches Stück Weg hinter mich gebracht habe, zeigt noch keine meiner zum Joggen unerlässlichen Komponenten (Muskeln, Puste, Lust) Ermüdungserscheinungen. Darum beschließe ich noch eine weitere Extratour. Irgendwie läuft es gerade wie geölt. Ich genieße jeden Schritt, jeden Meter, den ich schaffe. Und: jeden Tropfen Mühe, der mir die Stirn runterläuft. Glück schmeckt heute salzig.
Wieder zu Hause sehe ich schon ein bisschen aus wie eine holländische, in voller Blüte stehende Tulpe. Mit meinem knallroten Kopf. Allerdings eine Tulpe mit breitem Grinsen im Gesicht. Thom kommt aus seinem Studio und bemerkt nur: »Du warst heute ziemlich lang unterwegs, oder?« Ich denke schon. Das muss überprüft werden. Ich stoppe meine Laufuhr. So ein Hightech-Teil, das einem neben Herzfrequenz, Strecke und Kalorienverbrauch vermutlich demnächst auch Aktienkurse und Gutenachtgeschichten vorliest. Erst auf den zweiten Blick glaube ich, was ich ablesen kann. Ich wusste zwar, dass ich anständig durchgehalten habe, aber das ... Mein Kontrollgerät zeigt: Time 1 h 54 min 32 sec. Das gibt’s ja nicht. Doppelt so lange wie sonst. In der Zeit laufen andere Leute einen Halbmarathon. Ich juchze. Fast zwei Stunden. Unter Chemotherapie. Juch ...Huuuuuuu! Ich fühle mich gerade sehr lebendig. Mittelfinger, Krebs. Mittelfinger.
28.
Wir sind viele (Woche 8)
Die Masseurin walkt mit ihren zarten, kleinen Händen über meinen verspannten Nackenbereich. Demzufolge entfahren mir andauernd Seufzer und Geräusche. Der Entspannung und des ausdrücklichen Wohlgefallens natürlich. Dennoch berührt mich das ein wenig peinlich. Hauptsache, das passiert nicht, wenn sie sich zur Lendenwirbelsäule vorgearbeitet hat, mit einem anderen Körperteil. Seufzer und Geräusche, hervormassierte Inflatulenzen. Ich bin immer wieder bass erstaunt, wie in so einem feinen, kleinen, gerade mal halben Portiönchen so viel Kraft und Ausdauer stecken können. Eine gute halbe Stunde lang befindet sich Yvette jetzt schon in einer intensiven Auseinandersetzung mit meinen Blockaden. Weitere 30 Minuten der Kneteinheit liegen noch vor uns. Mein Gesicht ruht auf einem gut gepolsterten, mit Frottee umfassten Kopfteil in Form eines Rings. Das Loch in der Mitte gibt den Blick frei auf den antiken Holzfußboden. Ich liege in einem lichtdurchfluteten Raum in der oberen Etage des Wellnessflügels eines besonders schönen Hotels außerhalb von Berlin. Alles ist weiß, es duftet nach Eiche, Vanille und süßlichem Moschus. Und aus unsichtbaren Lautsprechern tönt atmosphärische Musik. Leise. Gerade noch wahrnehmbar, dass es nicht ganz still ist, wenn keiner
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