Fremdkörper
spricht. Es hat einige Tage und Überredungsversuche gebraucht, bis ich mich dazu durchringen konnte, ein Wochenende in diesem Wohlfühltempel zu verbringen. Zum einen schäme ich mich immer noch sehr, Fremden mein nackiges Haupt zu zeigen. Das ist bei einer Ganzkörper- inklusive Kopfmassage allerdings unumgänglich. Zum anderen ist man bei dieser Form der Behandlung bis auf sparsame Intimbedeckung ja auch ganz entblößt. Und der Gedanke daran, es könnte jemand die einst unheilvolle Brust sehen, auch wenn sie nicht mehr voll Unheil ist, macht mir immer noch unangenehmes Ziehen rund um den Bauchnabel.
Die Vorfreude auf Spa und Spaß hat gewonnen. Und noch döse ich ja bäuchlings vor mich hin. Kein Grund zur Beunruhigung also. Yvette indes beunruhigen höchstens diverse Verspannungen im mittleren Rücken, deren Bearbeitung ich wieder mit eigentümlichen Tönen des Genusses quittiere. »Alles in Ordnung?«, haucht sie. »Geht nicht besser«, murmele ich in mein Ringloch. Ob Yvette schon ahnt, dass ich ihr gleich nach der Behandlung einen Heiratsantrag machen muss? Da muss Thom durch. Dieses Rundum-sorglos-Paket, was mir gerade geschenkt wird, kommt genau zum richtigen Moment. Denn die Woche hatte es in sich.
Die erste Sitzung mit Taxol stand an. Die habe ich mit einer Lässigkeit über mich ergehen lassen, die jedem »Schau mir in die Augen, Kleines« von Humphrey Bogart standhalten würde. Finde ich. Die einzigen Überraschungen, die mich noch erwarten könnten, sind unerwünschte Nebenwirkungen, von denen bisher keiner, auch medizinisches Fachpersonal nicht, etwas geahnt hat. Aber selbst die blieben bislang aus. Stattdessen Begleiterscheinungen ganz brav nach Beipackzettel: so etwa ein paar Tage Knochenschmerzen. Wie Muskelkater am ganzen Körper, nur eben in jedem erreichbaren Winkel. Geht. Was nervt, das sind, besonders beim Sport, die tropfende Nase und ständig tränende Augen. Also, schau mir da bloß nicht rein, Kleiner.
Aber selbst das lässt sich aushalten. Weil ich ja ohnehin bei jeder Gelegenheit weine. Vermisst auf RTL, Nur die Liebe zählt auf Sat1. Ich heule. Versprochen. Jedenfalls kam ich mir während ebendieser Sitzung vor wie ein echter Routinier und habe die Neuankömmlinge im Chemo-Klub mit Ratschlägen vermutlich überrollt. Wer nicht nur zwischen den Zeilen, sondern diese Zeilen selbst auch zu lesen weiß, versteht, dass ich es natürlich nur gut meine. Und nicht aus meiner Haut kann.
Apropos Haut. Dank der liebevollen Streichel-, Drück- und Rollbehandlung duftet sie mittlerweile herrlich nach dem Avocado-Öl, das mir Yvette aufgetragen hat. Allerdings nur auf meiner Rückseite. Ziehen um den Bauchnabel. Die höfliche, aber unvermeidliche Aufforderung folgt dementsprechend auf dem Fuß: »Drehst du dich bitte um?« (Ich habe ihr das Du angeboten, weil ich Siezen unter Gleichaltrigen ziemlich albern finde.) Natürlich ist sie wie alle Wellness-Expertinnen wie von Klostervorsteherinnen geschult darin, das mich vormals bedeckende Laken so vors eigene Gesicht zu ziehen, dass sie bloß keinen Blick auf den bloßen Körper der Kundin erhascht. Dennoch geniere ich mich zurzeit wie nie und wende mich widerwillig und mit verschränkten Armen vor der Brust. Erst als Yvette mich wieder unter dem Tuch versteckt, werde ich locker.
Es ist wohl der Moment für eine Erklärung: »Weißt du, ich habe da gerade etwas hinter mir ...« – »Ich weiß.« – »Oh. Ach so. Ja. Klar.« (Wie schön, wenn man manche Dinge ganz schnell vergisst. Wie schade, dass sie einen, egal wie, von selbst daran erinnern.) Yvette rettet den Augenblick der Pause, bevor er unangenehm wird, mit einer überraschenden Offenbarung: »Ich hatte auch Krebs.« – »Oh.« – »Also, nicht wie du. Sondern ... unten ...« – »Oh.« (Mann, kommt aus mir auch noch etwas anderes heraus als »Oh«?) Yvette lässt sich nicht beirren: »Mit der OP war aber alles in Ordnung. Ich musste zum Glück nicht durch so ein Programm wie du. Dafür aber jetzt sehr regelmäßig zur Kontrolle.« Mein Herz erhöht sein Tempo. Das gibt es doch nicht. Die ist doch auch noch so jung. Warum denn noch eine?
Natürlich ist meine Wahrnehmung verschoben. Fakt ist: Die Krebsgeschichten, von denen ich erfahre, häufen sich in letzter Zeit. Nicht nur, dass sich mir vor Kurzem eine sehr bekannte Frau offenbarte und mir von ihrem Krebs berichtete, von dem – ihr Glück – keine Öffentlichkeit etwas mitbekommen hat. Auch erst vor ein paar Tagen ein weiteres
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