Fremdkörper
innerliche Narben immer noch verheilen. Außerdem hinterlässt die Bestrahlung auch kleine, spürbare Spuren. Dennoch tasten meine Hände wie von einem unstoppbaren Automatismus gesteuert nach der Zwickstelle. Ich mache den Quickcheck: alles weich. Und da, wo kleine Knubbel sind, waren früher auch schon welche. Auch, wenn ich das früher sicherlich nicht mit der Sicherheit hätte sagen können. Denn obwohl ich den Kummer-Kamerad damals selbst ertastet habe, so trieb mich, wie alle meine Freundinnen, immer die Sorge, nicht wirklich erkennen zu können, wenn da etwas so ist, wie es nicht sein sollte. Ich habe mit meinen Mädels in den vergangenen Monaten oft über dieses Problem gesprochen. Die einzige Idee, die übrig blieb, war die, sich das professionelle Busengrapschen anzugewöhnen. Unter der Dusche, im Bett, mal morgens, mal abends: die eigenen Melonen so gut kennen- und fühlen lernen, dass man es möglichst sofort merkt, wenn darin etwas faul wäre. Die Achseln nicht vergessen. Und auf harte, unnachgiebige Elemente achten. Apropos: Der Asphalt erweist sich auch als unnachgiebig. Kein knorpelfreundlicher Untergrund. Noch merke ich nichts. Aber ich konzentriere mich auf diszipliniertes Abrollen. Nicht dass die Knie frühzeitig wegknicken. Ein Siebtel hinter mir.
KM 4
Für jeden, der seinen Körper in irgendeiner Form regelmäßig fordert, ist diese Anpassung der Technik an die gegebenen Umstände ganz normal. Wohlfühlen, beibehalten. Schmerz fühlen, verändern. So simpel. So neu. Für mich. Typisch alte Miriam in der eben geschilderten Laufsituation wäre gewesen: »Ach, was. Das bisschen Bürgersteig. Das halten die Knochen schon aus. Zähne aufeinander und Tempo, Quengelliese.« Heute wissen ich, meine Muskulatur und meine Kondition, dass es kein unangemessenes Eingeständnis der Schwäche ist, auf die eigenen Bedürfnisse und Zeichen des Körpers zu hören. Im Gegenteil: So ein Bauchgefühl zum Beispiel, das sich nicht nur mitteilt, sondern auch von mir wahrgenommen und nicht verdrängt wird, kann etwas sehr Gesundes sein. Das war ein gar nicht so leichter, monatelanger Prozess, die Sinne wieder für mich zu schärfen. Und damit auch festzustellen, dass ich oft so ungnädig mit mir selbst war, wie ich es zu niemandem sonst gewesen wäre. Körperlich und seelisch. Immer mehr wollen, fordern, leisten, ertragen, anliefern, bieten, aushalten, machen – als guttut. Aber, und das ist der schöne Teil der Erkenntnis: Ich werde allmählich immer besser darin, in mich zu horchen. Und mich in Gehorsam zu üben. Was die innere Stimme betrifft. Wie ein Schleier, der mir von meinem Urgefühl genommen wurde. Eben war es noch etwas bedeckt. Jetzt ist es heiter bis sonnig. Das Gefühl. Und das Wetter.
KM 5
Keine Frage: Bei Sonnenschein läuft es sich wirklich am leichtesten. Die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite. Denn selbst ein halbnackiger Baum im Herbstlook macht was her, wenn goldene Strahlen durch die Äste fallen. Meine Mundwinkel wandern unweigerlich nach oben. Hach. Die Welt ist schön. Gerade jetzt. Und gerade hier. Ich laufe einen Halbmarathon, obwohl ich den Kampf gegen eine tückische Krankheit noch nicht einmal komplett hinter mich gebracht habe. Mir geht es super. Die Beine treten immer noch kraftvoll auf. Meine Seele trägt rosa. Und ich bin froh drum. Denn das war natürlich nicht immer so, im vergangenen halben Jahr. Die schwarzen Momente sind vermutlich so etwas wie ein Pflichtbestandteil in dieser Lebensphase. Aber ich wusste wenigstens immer, wie ich rauskomme aus dem Blues und rein in den rosa Zustand. Eine Studie über den Zusammenhang von Mimik, Körperhaltung und Emotionen hat mich da sehr inspiriert. Und zwar besagte das Ergebnis, dass bewusst aufgesetzte Gesichtszüge tatsächlich spektakuläre Auswirkungen auf die eigene Gefühlswelt haben. Wer mit einer eingefrästen, vertikalen Stirnfalte durchs Leben geht, wird nicht zum Berufsoptimisten werden. Oder konkret heißt das für meine Phasen der leichten bis mittelschweren Depression: Ich lächle, obwohl es mir eigentlich miserabel geht. Dann halte ich das vermeintliche Glücksgesicht auch eine Weile aus. Der Effekt ist aufsehenerregend. Denn siehe da: Die Laune zieht nach. Das hat viele Male bestens funktioniert. Das heißt: Über zunächst vorgespielte Freude, gelogenes Glück, hole ich mich selbst aus dem Loch des Leidens raus. Das ist fast wie die Geschichte vom Baron von Münchhausen, der sich an seinem Zopf aus dem Sumpf zog. Nur
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