Fremdkörper
War es meine Weigerung, klein beizugeben, Thoms Energie-durch-Liebe-Strategie, Glück, Gottes Werk oder hat Joggen seinen Beitrag geleistet? Es wird keine gesicherte Antwort geben, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielte. Ich kann aber zweifelsfrei festhalten, dass mir das Laufen – auf die Gefahr hin, dass diese Anmerkung mittlerweile eine Nervgrenze erreicht haben könnte – in vielen Momenten sehr zum Wohlbefinden beigetragen hat. Ich habe mich aus psychischen Death Valleys rausbekommen. Weil ich der Angst wirklich abgehauen bin. Und weil die körperliche Anstrengung und Leistungsfähigkeit genau das Gegenteil von dem zeigt, was die Begleiterscheinungen der Medikamente suggerieren: Ich kann eben doch noch was. Ich bin kein lahmender Gaul. Durch das Joggen habe ich auch die anderen Nebenwirkungen, besonders Anämie und Müdigkeit, ganz gut kontrollieren können. Für den Fall, dass man es bis jetzt noch nicht gemerkt hat, hehe: I love the Laufen.
KM 11
Und genauso liebe ich meine Liebsten. Wo die jetzt wohl gerade stehen? Ich hatte ihnen gesagt, dass die ersten zehn bis zwölf Kilometer unproblematisch sein dürften. Sprich: Wenn sie sich schon für eine Position zum Anfeuern und Abklatschen aussuchen, dann vielleicht ab Kilometer 13. Ich denke, dass spätestens nach zwei Dritteln des Rundkurses der erste herbe Einbruch kommt. Ist so ein Gefühl. Für den Fall habe ich mir die Superwoman-Taktik zurechtgelegt. Das hat während der Chemo auch einwandfrei funktioniert. In der Behandlungszeit bedeutete das Folgendes: Von Anfang an habe ich, sobald ich unter Menschen war, die Zähne zusammengebissen und allerorts Tapferkeit demonstriert. Das führte dazu, dass ich ziemlich schnell das Etikett der »bissigen Tapferen« bekam. Unbemerkt von vielen war ich das natürlich nicht immer. Sondern wie viele andere Patientinnen auch manchmal: saftlos, kraftlos, machtlos. Aber wann immer ich in Gesellschaft war, erinnerte ich mich daran, dass ich einen guten Ruf zu verlieren hatte. Also Luftholen, Kinn hoch und Schultern zurück. Wer eine Superwoman erwartet, soll – und möchte meine Motivation sein – auch eine bekommen. Heißt übertragen: Ich habe meiner Familie und vielen Freunden aufgeregt von dem Vorhaben Halbmarathon erzählt. Selbst die Skeptischen unter ihnen waren sich meines Reüssierens sicher. Die Erwartungen will ich im Dienste meines Ansporns nicht enttäuschen. So. Halbzeit. Kurz dahinter.
KM 12
Nur noch 500 Meter, dann müsste eigentlich die Linkskurve kommen, die mich in den Park und an den See bringt. Ich habe soeben beschlossen, dass das jetzt mein nächstes Vorfreude-Ziel ist. Immer kleine Etappen machen. Das hilft. Wohngebiet – oooh, wie schön ist Braunschweig! Kleingärten – oooh, so große Rhododendren. Waldwege – ooooh, das riecht nach Abenteuer. Oder eben: der Südsee – immerhin der, wenn schon nicht die. Ich beobachte meine Mitläufer. Einen Stereotypen kann ich nicht ausmachen. Die durch und durch drahtigen Exemplare sind, wie sich das für ihren beneidenswerten Konditionszustand gehört, jenseits jeder vorstellbaren Erreichbarkeit. Nämlich um diese Zeit wahrscheinlich schon längst im Ziel. Darüber hinaus gibt es Läufer in allen Darreichungsformen. Lange und kurze (wie mich), schmale und breite. Ein Schelm, wer sich jetzt mit Häme die kurvigeren Kämpfer mit hochrotem Kopf, am Rande des Weges und der Kräfte vorstellt. Jeder Mopsi ist genauso fit wie sein Trainingsprogramm vor dem Lauf. Und das scheint, wovon ich mich überzeugen kann, oftmals ein ehrgeiziges gewesen zu sein. Die Brummkreisel, die ich beobachte, laufen zwar in einem nachvollziehbaren Tempo, aber sie schnaufen und prusten nicht. Sondern sie atmen. Ganz normal. Sie teilen sich ihre Kräfte ein. Sie trinken (Wasser). Und essen (halbe Bananen).
Jämmerlich ist eher der Anblick von zwei klapperdürren Gestalten. Anfangs sind die beiden losgespurtet, als sei jemand sehr Böses hinter ihnen her. Jetzt sitzen sie mit weißer (der Mann) beziehungsweise grünlicher (die Frau) Gesichtsfarbe im Gras. Fachpersonal vom Malteser Hilfsdienst kümmert sich um die beiden. Ich bin mit meiner Beobachtung noch nicht fertig. Drei weitere Frauen habe ich bemerkt, die mir an unterschiedlichen Stellen meines Laufs aufgefallen sind. Der Grund: Alle trugen raspelkurze Haare. Definitiv zu kurz, sogar für einen maskulinen Haarschnitt. Eine neue Frage in meinem Fragenspektrum für dieses Leben drängt sich mir auf, wenn ich
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