Fremdkörper
weit entfernt von müde. Aber meine Gedanken sind etwas trüb. Da sich das gegenseitig ganz gut aufhebt, ist der Allgemeinzustand: okay.
KM 8
Ich will mich nicht bremsen. Die Füße und die Gedanken nicht. Ich lande mit meinem ziellosen hin und her sinnieren mal wieder bei meiner Großmutter. Das Wissen um das Nimmerwiedersehen fällt plump und bitter in den Bauch. Ich mache mir Vorwürfe. Wer sagt eigentlich, dass ich mich ihr nicht doch hätte zumuten können? Auch ohne Haare. Ich hab das gedacht. Ich weiß. Zum (wenige) Haareraufen. Oh, Wut. Ich hätte sie so gerne noch einmal umarmt. Ihr noch einmal einen Kuss aufgedrückt auf die weiche Wange. Wäre gerne einmal noch mit ihr zu dem Flüsschen spazieren gegangen, in dem ich als Kind im Sommer baden war. Ich hätte gerne mit ihr über kauzige Dorfbewohner getratscht. Oder ihr eine Suppe gekocht. Wir hätten das Vogelfutter an dem kleinen Häuschen, das ich vor über zehn Jahren zusammen mit meinem Großvater gebaut und angemalt habe, gemeinsam aufgefüllt und gewartet, bis die Zaungäste herangeflogen kommen.
Omi hat es sehr gemocht, die Vögel zu beobachten. Und sie hat ihre Enkelkinder sehr geliebt. Auch wenn sie die Namen der Jungs und auch die von uns Mädchen regelmäßig so durcheinanderbrachte, dass sie sich dreimal korrigieren musste, bis sie bei der richtigen Ansprache gelandet war. Dann hat sie sich glucksend über sich selbst kaputtgelacht und vom Thema abgelenkt: »Na, haste auch ein bisschen Speck angesetzt?« So war sie zuletzt. So will ich sie in Erinnerung behalten. Und wenn sie recht hat, und das, woran ich glaube, stimmt, dann sehen wir uns ja ohnehin alle wieder. Auch wenn es noch ein bisschen dauert. Erst einmal ist meine Aufgabe, es auch bis zur Großmutter zu schaffen. Das ist angesichts der Umstände schon Ziel genug.
KM 9
Ich möchte und werde nicht sterben. Zumindest nicht so bald. Wie übrigens die überwiegende Mehrheit der Frauen nicht, bei denen Brustkrebs diagnostiziert wird. Wenn die Chancen auf restlose Heilung grundsätzlich günstig stehen, dann bei dieser Form. Dennoch hilft es ja nichts, vor der Tatsache des möglichen Todes davonzulaufen. Auch wenn ich den Eindruck vermittelt haben könnte, genau das zu tun. Wegzulaufen. Tag für Tag. Ich erinnere mich an meine eigenen Todesgedanken. Und die Gefühle dabei. Geholfen hat mir die Visualisierungstechnik nach Dr. Simonton. Er empfiehlt, sich den eigenen Tod, die eigene Beerdigung – trotz aller Scheu und Hemmungen – so bildhaft wie möglich vorzustellen. Genauso die Zeremonie. Menschen, die da sind. Dinge, die noch erledigt werden müssen. Diese sehr praktische Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit nimmt der Angst davor deutlich an Kraft. Ich habe für mich festgestellt: In starken Augenblicken hätte ich wahrhaft sagen können: »Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod.« Das, was so wehtut, ist der Gedanke an die Seelenqual der (Über-)Lebenden. Für die ist der Tod grausam. Der Verlust schmerzhaft.
Was nicht heißt, dass ich eine Sehnsucht nach dem Ende entwickelt hätte. Oh, nein. Ich hänge am Leben. Mit Liebe und Leidenschaft und allen zehn kräftigen Fingern. Außerdem habe ich doch noch so viel vor. Da käme mir ein vorzeitiges, krankheitsbedingtes Ableben überhaupt nicht recht. Ich möchte das so klar ausdrücken, nur falls Monsieur da oben Protokoll führt. Diese Überlegungen rund um Omis Abreise und meine eigene irgendwann haben mich zu einem längst bekannten Schluss kommen lassen: Es kann so schnell gehen! Und letztlich jederzeit passieren. Ich will mit den Menschen, die ich liebe, keine großen Themen unbesprochen in der Luft stehen lassen. Keine ausstehenden Antworten, keine verschwiegenen Fragen, keine unvollendete Diskussionen. Ebenso: keine versäumten Entschuldigungen oder vernachlässigten Liebesbeweise. Carpe diem eben. Aber das sagen einem römische Dichter wie Horaz oder altgriechische Philosophen ja schon seit über 2000 Jahren.
KM 10
Ich nähere mich der 10 000-Meter-Marke. Die kleinen Gärtchen habe ich mittlerweile rechts liegen gelassen und seit einigen Minuten arbeite ich mich über recht federnden Waldboden vorwärts. Dieser kalt-nasse Duft von Laub und Erde in der Nase versöhnt meinen Geist und vertreibt die nebeligen Gedanken. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und die Bewegung der Beine. Natürlich weiß ich nicht, was es genau war, das mich so verhältnismäßig leichtfüßig durch diese schwere Therapiezeit getragen hat.
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