Fremdkörper
die Route an. Die ersten 10 Kilometer gehen durch städtisches Wohngebiet und an einer Schrebergartensiedlung entlang. Dann führt der Weg in eine Grünfläche, einen Park, nehme ich an, und um einen See herum. Diese Wasserrunde müssen wir zweimal machen. Wenn ich das hinter mir habe, sind stattliche 17 Kilometer geschafft. Die letzten 4 Komma irgendwas Kilometer, oder übersetzt in die Einheit mp3: etwa sieben Lieder, sollte ich dann auch noch hinkriegen.
Ich kopf-jogge noch ein bisschen und logge mich kurz später aus. Gleich brechen wir auf Richtung Start. Meine Entourage besteht aus dem Liebsten und den Liebsten. Familie und Förderer sozusagen. Blutsverwandtschaft von Thom und Freunde. Ich wärme mich hüpfend und Arme unkontrolliert schleudernd ein bisschen auf. Mit mir und um mich herum etwa 700 andere Läufer. Das Grüppchen meiner Unterstützer wird sich nach dem Start aufteilen und an verschiedenen Streckenabschnitten auf mein Vorbeilaufen warten. Die Armen. Das ist doch pure, bewusst in Kauf genommene Langeweile. Erst recht, weil ich so langsam laufe und daher eine lange Weile brauchen werde. Sie müssen mich wohl wirklich doll lieb haben. Mitten in meine verschlafen-verklärten Gedanken über diese feinen Menschen ertönt der Startschuss.
KM 1
Ich sprinte los. Wie ein aufgezogenes Auto für die Darda-Bahn, das jemand losgelassen hat. Ein zurückschnellender Gummizug. Viel zu eilig. War ja klar. Nur, weil ich mit den anderen mithalten will. Was nicht nur ein fast unmögliches, sondern auch ein sehr dummes Unterfangen ist. Denn bei dem Tempo klappt nichts sonderlich gut. Und ich spätestens nach 10 Kilometern zusammen. Also bremse ich mich. Was erst einmal sehr demotivierend ist, da das gesamte Teilnehmerfeld an mir vorbei-rennt. Egal. Die Vernunft ruft mich zur Räson, also schön schnell zu sich zurück. Holla-di-o, die Ratio. Ankommen ist das Ziel. Und davon bin ich am denkbar weitesten entfernt. Mithilfe meines Geschwindigkeitsmessers bringe ich mich in den mir ureigenen Rhythmus. Ich horche kurz in mich hinein. Zu den Füßen und Knöcheln. Da ist alles geschmeidig. Die Knie – warm und weich. In den Oberschenkelmuskeln piekst es noch etwas. Aber das kenne ich. Das ist spätestens beim dritten Kilometer weg. Die Lunge atmet recht frische, autofreie Sonntagsluft. Und mein Gemüt ist auf Vergnügen eingestellt. Miriam, du läufst deinen ersten Halbmarathon. Genieße es. Entspann dich. Und freu dich, dass du läufst und lebst. Die ersten 1000 Meter sind abgehakt. Jetzt »nur noch« 20 Mal so viel.
KM 2
In meinen Ohren klingt Musik. Ich habe mir für die heutige etwas längere Laufsession die Lieder eines alten Bekannten ausgesucht. Die von Thom. Quasi mein Halbmara-Thom. Hehe! Die Songs sind von seiner ersten Soloplatte »Gods & Monsters«. Ich finde, dass der Albumtitel ziemlich gut zu unseren vergangenen Monaten passt. Und vielleicht werde ich auch heute während meines Laufs die Götter, den einen Gott bitten wollen, Monster zu vertreiben. Die der Vergangenheit. Und aktuell vor allen Dingen die, die sich gerne als Monsterkrämpfe in den Muskeln bemerkbar machen. Gerade läuft Where you are. Eine Nummer, die er mir geschrieben und geschenkt hat, bevor wir zueinandergefunden haben. Er hatte sich gedacht, das könnte eine prima Methode sein, mein Herz zu gewinnen. Hat funktioniert. Rockstar-Rechnung aufgegangen. Jetzt, wo ich die Zeilen nach längerer Zeit wieder höre – sein Versprechen, immer da zu sein, egal, wo ich bin –, werde ich sentimental. Er hat Wort gehalten. So sehr. Und damit ich noch eine Zeit lang da bin, für ihn bin, hier bin, nicht so schnell verschwinde von dieser Welt – deswegen laufe ich mir seit Monaten die Seele aus dem Leib. Damit sie am Ende wieder im Körper am rechten Fleck sitzt. Ich lächele vor mich hin. Heute ist das, mehr denn je zuvor, mein Lebenslauf. Nicht um mein Leben. Aber dafür.
KM 3
Wir sind mittlerweile in einer richtig attraktiven Villengegend angelangt. Breite Bürgersteige, baumbestandene Straßen und klassizistische Altbauten, die es locker mit Hamburg-Blankenese aufnehmen können. Teures Pflaster. Günstig, dass es was zu gucken gibt. Da zieht die Zeit beziehungsweise die Strecke schneller an einem vorbei. Noch etwas anderes zieht im Moment. Und das ist irgendetwas in der Brust. Macht nicht ängstlich, nur aufmerksam. Das Pieksen ist, das habe ich mir ärztlich bestätigen lassen, völlig normal. Weil sich Nervenenden suchen und finden und
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