French 75: Ein Rostock-Krimi
mechanische Schreibmaschine in die Küche, die er den Berg hochgeschleppt hatte, und zelebrierte das Abtippen seiner Nachdichtung, indem er immer nur den linken Mittelfinger benutzte, um der werten Leserschaft zu zeigen, was er wirklich von ihr hielt:
Schwestern der Barmherzigkeit
Heißhungrig die Schönen: Dieser Gegenstand von kleinen Zwanzig
Dieser Augenglanz fernöstlich. Diese opiumsüße Haut. Sollte nackt er
und von – von Kalifen angebetet schreiten?
Ungestüm, mit reizend reinen, dunklen, feuchten Süßigkeiten
Hochmütig, all den ersten, eignen Sturheiten vertrauend
gleich unreifen Meeren. Augensalz in Sommernächten
Heimbringend die Diamanten auf ihre Lagerstätten
Dieser junge Mann erhofft sich
vom Sensenspiel der Abscheulichkeit vernarbt
von Krokodilschwanzschlägen auf sein Herz verärgert
Berührt zu werden von den Schwestern der Barmherzigkeit
– niemals!
Stures Glotzen aufgesetzter Kuhaugen
Jede Umarmung eine Frage
dien ich dir als Höllenstück, Brustträgerin
bin ich dir Kindheit, verzerrende oder gewinnende Glut?
Dein Hass, deine ewige Kälte, deine harten Worte, deine Ohnmachten
brandmarkten mich – einst
Du gibst alles zurück, dennoch ohne bösen Willen
gleichsam einer Ausschreitung monatlicher Blutergüsse
Euer Wurf ein Drängen, ein Grauen, eine Liebhaberei
euer Anrufen der Lebenskraft, der grünen Musen
euer Marschlied der Lebendigkeit, eifriges Gerechtigen –
zerreißen eure erhabenen Zwangsvorstellungen, Mutter
AH.
Unaufhörlich durstig des Herrlichen und des Gelassenen
Verlassen von zwei Gleichgeborenen, Heulsusen
Unbeachtet die zärtliche Liebe nach Wissenschaft
Die Blüte am Tor des Weltalls: sein blutiges Gesicht
Allein, der Viertelton der Alchimie und des Studierens
stößt ab Verwundete. Dunkler, gut unterrichteter Stolz
Er soll gehen, der Sohn
dann jetzt und immer, dann stets und edel, dann ohne Abscheu
Möge er haben weite Absichten, Träume und maßfreie Lieder
quer durch Nächte der Wirklichkeit
Mögest du rufen seinen Geist, seine kranken Glieder
Oh Rätsel der Vernichtung, oh Schwester der Barmherzigkeit
In Maloja hatte Tobias einen guten Graubündner zu sich genommen. Dazu hatte er sich einen Salat machen lassen. Beim Verlassen des kleinen Bergdorfes nahe der italienischen Grenze sah er am Ortsausgang noch einmal zum Piz Longhin hinüber, hinter dem gerade die Sonne mit einem betörenden Alpenglühen versank. Ehe Tobias sich auf den steilen Anstieg zur Segantini-Hütte begab, zweitausendsiebenhunderteinunddreißig Meter über dem Meeresspiegel, zog er noch einmal die Schnürsenkel seiner Stiefel nach.
Er wanderte durch das Engadin, von Hütte zu Hütte, um Menschen um sich herum zu haben. Er mochte es sich nicht eingestehen, aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass das wilde Tier, das Nacht für Nacht versuchte, durch das Dach der Hütte zu kommen, ihn vertrieben hatte. Lieber nächtigte er unter Touristen und einheimischen Wanderern, als auch nur noch eine einzige Nacht in der wilden Einsamkeit zu verbringen. Tobias war schon ein paar Tage unterwegs, von seinem gepflegten Äußeren war nicht mehr viel übrig, aber er freute sich, auch heute Abend wieder unter einfachen Leuten zu sein, mit ihnen an einem Lagerfeuer ein paar Biere zu trinken, um dann mit einem Ferienlagergefühl in einen Schlafsaal zu gehen, den sie alle mit dem ersten Hahnenschrei schon wieder verließen. Zuvor würden sie sich unter einer Pumpe mit kaltem Schmelzwasser waschen, unter freiem Himmel. Tobias begann, Nietzsche zu verstehen, der hier glücklich gewesen war. Niemand hier kannte Tobias Siegfried März, hier war er einfach nur ein deutscher Student, der Liebeskummer hatte.
Tobias war nicht überrascht, als er auf zweitausendfünfhundert Metern über Null eine Herde Steinböcke sah, die auf einem sonnigen Abhang Gras unter Geröll hervorzog. Die Tiere waren etwa einen halben Kilometer entfernt, aber Tobias konnte ihre langen Hörner gut ausmachen. Zwischen ihnen und ihm lag eine schmale aber steile Schlucht – ob sie die überspringen könnten?
»Natürlich«, antwortete Tobias sich, der mittlerweile zu einem Spezialisten für die alpine Bergwelt geworden war. Die letzten Meter bis zur Hütte absolvierte der Poet betont langsam, hatte er doch auch gelernt, dass die Pause der wichtigste Teil eines Anstieges war. Im Schatten der Berghütte sah er zum Piz Palü, zum Piz Bellavista und zum Piz Bernina
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