French 75: Ein Rostock-Krimi
marschiert, dann war er in einen leichten Dauerlauf verfallen, weil er die Steigung so besser bewältigen konnte. Vom Kamm hatte er über ein weites Tal mit Fluss und Stadt geblickt, hinter dem sich eine Gebirgskette befand, deren Gipfel eisweiß und weltberühmt waren. Ruhm , der junge Lyriker schmunzelte, was war schon Ruhm ohne Image?
Tobias stand auf, machte die Herdtür zu und dachte an das Buch »Keiner kommt hier lebend raus«, in dem es um die amerikanische Rockband The Doors ging und in dem der Sänger zitiert worden war: »Mit einem Image kann dir nichts passieren. J. M.«
Tobias nickte seinem Spiegelbild zu, das sich über der Spüle befand, ließ Wasser in einen Kessel und stellte ihn auf eine der schmiedeeisernen Herdplatten, bevor er zur Küchentür ging, die auf die Terrasse führte. Erst bollerte er gegen das Holz, um die wilden Tiere zu vertreiben, dann öffnete er die schwere Eichentür. Als nächstes stieß er die Haustür weit auf, schaltete das Licht in der Küche aus und ging hinaus, um die Fensterläden des Küchenfensters von außen zu öffnen. Er blickte auf den Tisch, an dem er gerade noch gesessen hatte, drehte sich um, legte die Hände auf die Brüstung der Terrasse und sah über eine weite Wiese, die von Baumreihen begrenzt wurde, deren Wipfel bis auf seine Augenhöhe reichten. Über diesen Bäumen kreisten schon wieder zwei Falken. Oder Habichte? Bussarde? Tobias hörte ihr Kreischen, das kleinere Vögel und Säugetiere aufschrecken sollte. Der junge Lyriker schüttelte den Kopf und sagte leise: »Was gestern schon nicht geklappt hat, das klappt auch heute nicht.«
Als hätten die Raubvögel es gehört, drehten sie ab, doch was sie wirklich vertrieb, das scheuchte auch Tobias zurück in die Küche. Er nahm den pfeifenden Wasserkessel vom Herd und goss sich einen Kaffee auf. Krümelkaffee, weil er weder Papierfilter noch Porzellanfilter gefunden hatte. Eine Kaffeemaschine oder ein Espressotopf schon gar nicht. Krümelkaffee! Tobias rührte ihn um, wartete bis er sich gesetzt hatte und ging mit der Tasse auf die Terrasse zurück. Als würde die Welt nicht wissen, dass er einen solch zubereiteten Kaffee hasste! Sie sollte sich bloß nicht so dämlich anstellten, diese bekloppte Menschheit! Als hätte er nicht extra das Gedicht In schwarzen Wassern der Mütter verbrennen die Söhne zu Krümeln verfasst!
Zu ihren Lebzeiten hatte seine Mutter den Kaffee immer so getrunken, und er hatte später mehr als nur angedeutet, dass alles, was seine Mutter gesagt oder getan hatte, seelengrund schlecht gewesen war. Seine ersten Gedichte sprachen da doch Bände. Und nun? Nun lud ihn die Menschheit hier ab und verweigerte ihm einen simplen Kaffeefilter!
Er pustete und ekelte sich vor dem Schluck, den er trank. Dann sah er in die Sonne, die sich von links ums Haus schlich. Eine Woche war er nun schon hier. Hauste in dieser größten Einsamkeit als Stipendiat des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und ärgerte sich einmal mehr darüber, dass einem Schriftsteller bevorzugt dann Stipendiengeld gegeben wurde, damit er aus dem Leben der Gesellschaft verschwand. Was war das für eine Menschheit, die ihre Autoren und Lyriker zu wilden Tieren schickte, um sie zu entfremden? Auszuwildern!
Noch hatte er fast vier Monate Gefängnis in der freien Wildbahn vor sich, entschädigt mit fünftausend Schweizer Franken, Tobias wusste ja, es gab Schlimmeres. Und weil er nun mal dafür bezahlt wurde, stand er nach dem Trinken des verhassten und geliebten Kaffees auch artig auf und machte sich daran, weiter an dem Gedicht zu arbeiten, das er vor Tagen begonnen hatte. Es lag handgeschrieben auf dem Küchentisch und passte auf drei Seiten Papier. Die erste Strophe war drei Zeilen lang, die folgenden neun vier, und zwischen der siebten und achten Strophe hatte er ein AH eingefügt; sein Markenzeichen, es fand sich in jedem seiner Gedichte. Dieses ahnungsschwangere AH war sein Beitrag zur Weltliteraturgeschichte. So wurde selbst eine Nachdichtung zu einer Eigenkreation.
Tobias schlug als Geste der Freundschaft auf die Gedichte jener Lyriker ein, die von ihren Müttern in den Selbstmord getrieben worden waren. Er hatte festgestellt, fast alle Lyriker waren von ihren hartherzigen Müttern mit Verweigerung gequält worden. So hatte er zu seinen Leidensgenossen gefunden: Hölderlin, Schiller, Nietzsche, Verlaine, Rimbaud, Jessenin, Majakowski, Büchner, Rilke, und wo waren Hemingways Gedichte geblieben?
Tobias holte die
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