French 75: Ein Rostock-Krimi
sein Schnabel genauso lang wie das Holzkreuz war. Im Hintergrund erstreckte sich ein Friedhof bis zum Horizont. Eigenartigerweise schien die Sonne, dabei wusste doch nun jeder halbwegs gebildete Leser, dass Untote nur nachts aus den Gräbern kamen. Pawel schüttelte den Kopf. Der Fuß des muskulösen Beins stand auf einem dritten Raben, und das fand Pawel schon wieder lustig. Er hörte förmlich, wie der Untote beim Herauskommen sagte: Ups!
Unter der Bleistiftzeichnung stand: »französisch und deutsch. Reclam«. Und darüber: »Arthur Rimbaud. Gedichte«.
»Sie wissen ja bestimmt, dass das eine unserer wichtigsten Bibeln war, als es die Berliner Mauer noch gab. Und mit ›wir‹ meine ich natürlich den Ostteil der Stadt, die damals schon Hauptstadt war.«
»DDR und so«, sagte Pawel, woraufhin das Männchen kicherte und beinahe von der Leiter gefallen wäre.
»Genau, DDR und so. – Aber das ist kein seltenes Buch, wie Sie meinten. Erstauflage hundertfünfzigtausend Exemplare. Reclam Leipzig ist für große Auflagen bekannt gewesen.«
»Tatsächlich? Das überrascht mich. Ich dachte, es wäre so selten, dass man dafür morden würde.«
»I wo, wer hat Ihnen das erzählt?«
»Niemand. – Was ist der Preis?«
»Zwölf Euro.«
»Obwohl es nicht selten ist?«
»Es ist selten, dieses Exemplar! Das ist keine Allgemeinware. Sehen Sie mal auf die dritte Seite!«
Pawel schlug das Buch auf, fand auf der zweiten Seite das Portrait eines Halbwüchsigen mit zugepressten Lippen und verwuschelten Haaren. Trauriger Blick am Betrachter vorbei. Auf der linken Seite stand: »Arthur Rimbaud. Gedichte. französisch und deutsch. Herausgegeben und mit einem Essay von Karlheinz Bark.« Darunter hatte jemand mit Kugelschreiber geschrieben: »Gewidmet meinem langjährigen Freund und Berater.«
»Und?«, fragte Pawel. Er drehte das Buch um und las, dass dieser Rimbaud bereits achtzehneinundneunzig gestorben war. Er hatte sich wohl gern der Sehende genannt. Aber welcher Teenager tat das nicht?
»Das war einmal das persönliche Exemplar eines Erfinders. Im zarten Alter von siebzehn, achtzehn Jahren hat er es täglich bei sich gehabt. Diese Widmung ist das Besondere.«
»Ich gebe Ihnen acht Euro dafür. Keine Kopeke mehr. – Wahrscheinlich haben Sie selbst in all diese Bücher irgendwelche Widmungen von berühmten Männern und Frauen geschrieben, um so die Miete zu bezahlen. Wer im Keller sitzt, sollte nicht den Wasserhahn aufdrehen! Sagen Sie, wo finde ich denn ein persönliches Exemplar des jungen Einstein?«
»Hinten, bei den Dramen.«
Die beiden Männer lachten und gingen zurück zum alten Schreibtisch. Pawel gab dann doch zehn Euro und grüßte von der Treppe aus noch einmal. Draußen kämpfte sich der Detektiv durch den Besucherstrom des Ostermarkts, um zum Stadtpark zu kommen, der früher einmal die Wallanlage vor der Stadtmauer gewesen war. Die Stadtmauer von Rostock gab es aber schon lange nicht mehr. Dafür waren hier an der Ostsee zu viele Kämpfe ausgetragen worden. Pawel setzte sich auf eine Bank, hörte dem Geklapper der Skateboard fahrenden Jungs zu, die auf einer Übungswiese hinter den Bäumen eisern trainierten und den Schulstress abbauten, ehe er das Buch aufschlug.
Es war ihm ein völliges Rätsel, warum der Meistermörder sich dieses Buch aus der Vitrine von Britta Lind mitgenommen hatte. Nicht selten? Total billig? Was sollte das? Pawel blätterte lustlos.
Ganz hinten hatte dieser Erfinder, oder wer auch immer, selbst ein Gedicht auf die leere Seite geschrieben. Pawel las leise vor sich hin: »Am See im Grün / Wie sich das Wasser diesen Stein / zum rechten Tod hinbettet. / Mit leisen Schwüren, trauter Wärme. / Und magisch Brust erweicht es kühn und immer da / sein fast verschrienes, kleines Herz. / So lässt er Liebe glühen, / wie Mittagssonne auf dem Ährenfeld, / sich Haut um Haut zerreißen. / Und das Wasser? / Ist’s sein Spiel / oder sein Leben? / * / aufrüttelnd.«
Pawel las es noch einmal, hoffend, in diesen Zeilen läge der Schlüssel zu den Morden. Beim dritten Mal las er Silbe um Silbe, er zwang sich, bei jedem Wort zu verharren, und erinnerte sich an seinen Helfer in den einsamen Stunden, an den russischen Nationaldichter Jessenin, der der russischen Seele Sprache gegeben hatte. Ein Bauernbursche, der bei den Großeltern aufgewachsen war, der weder Lesen noch Schreiben konnte, der mit achtzehn Jahre aber in die Hauptstadt Russlands kam und in den Literatursalons
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