French, Tana
heiratet?«
Kurzes
Schweigen. »Hat er das gesagt?«
Dieser
stinkende Widerling. Mit einer Hand umklammerte ich das Treppengeländer so
fest, dass es weh tat. Holly sagte, mit einem Achselzucken in der Stimme: »Ich
hab ihn nicht gefragt.«
»Keiner
weiß, warum Rosie getötet wurde. Und jetzt ist es zu spät, das noch
rauszufinden. Was geschehen ist, ist geschehen.«
Holly
sagte mit der spontanen, herzzerreißenden, absoluten Zuversicht, die
Neunjährige noch besitzen: »Mein Dad findet's raus.«
Shay
sagte: »Ach ja?«
»Jawohl.
Hat er gesagt.«
»Na ja«,
sagte Shay und schaffte es immerhin, möglichst wenig Häme in seine Stimme zu
legen. »Klar, dein Dad ist Polizist. Da muss er so denken. Jetzt schau mal
hier: Wenn Desmond dreihundertzweiundvierzig Bonbons hat und er sie sich mit
acht Freunden teilt, wie viele kriegt dann jeder?«
»Wenn im
Buch >Bonbons< steht, sollen wir >Apfel< oder >Bananen< hinschreiben.
Weil Bonbons ungesund sind. Ich finde das doof. Sind doch sowieso keine
richtigen Bonbons.«
»Ist auch
doof, aber das Ergebnis bleibt dasselbe. Also, wie viele Äpfel?«
Das
gleichmäßige Schaben eines Stifts - inzwischen vernahm ich die leisesten Laute
aus der Wohnung, wahrscheinlich sogar, wenn die zwei blinzelten. Holly sagte:
»Was war mit Onkel Kevin?«
Wieder ein
ganz kurzes Zögern, ehe Shay sagte: »Was soll mit ihm gewesen sein?«
»Hat ihn
jemand getötet?«
Shay
sagte: »Kevin«, und seine Stimme war so gepresst voll von einem schrecklichen
Wust von Dingen, wie ich das noch bei keinem Menschen gehört hatte. »Nein.
Niemand hat Kevin getötet.«
»Bestimmt?«
»Was sagt
dein Dad denn?«
Wieder das
Achselzucken. »Ich hab dir doch schon gesagt. Ich hab ihn nicht gefragt. Er
redet nicht gerne über Onkel Kevin. Deshalb wollte ich dich ja fragen.«
»Kevin.
Gott.« Shay lachte, ein harter, trostloser Klang. »Vielleicht bist du ja schon
alt genug, um das zu verstehen, ich weiß nicht. Wenn nicht, musst du es dir eben
merken, bis du alt genug bist. Kevin war ein Kind. Er ist nie erwachsen geworden.
Siebenunddreißig Jahre alt, und er hat immer noch geglaubt, in der Welt läuft
alles so, wie er sich das vorstellt. Er ist nie auf den Gedanken gekommen, dass
die Welt ihren eigenen Gang gehen könnte, ob ihm der nun passt oder nicht. Und
deshalb ist er im Dunkeln in ein baufälliges Haus spaziert, weil er davon
ausgegangen ist, dass ihm schon nichts passiert, und stattdessen ist er aus
einem Fenster gefallen. Schluss, aus.«
Ich spürte
das Holz des Geländers unter meinem Griff knacken und nachgeben. Die
Endgültigkeit in seiner Stimme verriet mir, dass er bis zum Ende seines Lebens
bei dieser Version bleiben würde. Vielleicht glaubte er sie sogar selbst,
obwohl ich das bezweifelte. Vielleicht hätte er sie irgendwann geglaubt, wenn
er unbehelligt geblieben wäre.
»Was heißt
baufällig?«
»Kaputt.
Kurz vor dem Einsturz. Gefährlich.« Holly dachte darüber nach. Sie sagte: »Er
hätte trotzdem nicht sterben sollen.«
»Nein«,
sagte Shay, aber die Vehemenz war aus seiner Stimme gewichen, und er klang
plötzlich ausgelaugt. »Er hätte nicht sterben sollen. Das hat keiner gewollt.«
»Aber
jemand hat gewollt, dass Rosie stirbt. Nicht?«
»Nein,
nicht mal sie. Manche Dinge passieren einfach.«
Holly
sagte trotzig: »Wenn mein Dad sie geheiratet hätte, hätte er meine Mum nicht
geheiratet und mich hätte es nie gegeben. Ich bin froh, dass sie
gestorben ist.«
Das
Flurlicht schaltete sich mit einem lauten Klacken aus — ich konnte mich nicht
mal erinnern, es auf dem Weg nach oben angemacht zu haben -, und ich stand
plötzlich mit rasendem Herzen im Dunkeln. Mit einem Mal wurde mir bewusst,
dass ich Holly nie erzählt hatte, an wen Rosies Brief gerichtet gewesen war.
Sie musste ihn selbst gesehen haben.
Und nur
eine Sekunde später begriff ich, warum sie nach dem ganzen rührenden Gerede,
sie wolle Zeit mit ihren Cousinen verbringen, heute ihre Mathehausaufgaben
mitgebracht hatte. Weil sie nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Shay unter
vier Augen zu sprechen.
Holly
hatte das alles sorgfältig geplant. Sie hatte dieses Haus betreten,
schnurstracks ihr angestammtes Recht auf Falltürengeheimnisse und raffinierte
mörderische Pläne angesteuert, hatte darauf gepocht und es für sich
beansprucht.
Blut setzt
sich durch, sagte die Stimme meines Vaters tonlos an meinem Ohr; und
dann, mit rasiermesserscharfer Belustigung: Du hältst
dich also für einen besseren Dad. Da hatte
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