French, Tana
sie versuchte, etwas zu verstehen, was selbst einen
Erwachsenen überfordert hätte, weckte in mir den Wunsch, Shay in die
Kniescheibe zu schießen. Dann ging sie. Als sie an mir vorbeikam, schmiegte
sie kurz ihre Schulter an meine Seite; ich wollte sie ganz fest in die Arme
schließen, doch stattdessen strich ich über ihren weichen Kopf, legte eine Hand
in ihr Genick und drückte es sacht. Wir lauschten ihren Schritten die Treppe
hinunter, leichtfüßig wie eine Fee auf dem dicken Teppich, und hörten das
Anschwellen von Stimmen, als sie in Mas Wohnung empfangen wurde.
Ich
schloss die Tür hinter ihr und sagte: »Und ich hab mich schon gewundert, wieso
sie auf einmal so gut dividieren kann. Ist das nicht komisch?«
Shay
sagte: »Sie ist nicht dumm. Sie brauchte bloß ein bisschen Hilfe.«
»Oh, das
weiß ich. Aber gekriegt hat sie sie von dir. Ich wollte dir unbedingt sagen,
wie sehr ich das zu schätzen weiß.« Ich zog Hollys Stuhl aus dem hellen
Lichtkegel und aus Shays Reichweite und setzte mich. »Nett hast du's hier.«
»Danke.«
»Meiner
Erinnerung nach hatte Mrs Field die Wände mit Bildern von Pater Pio tapeziert,
und es stank immer nach Nelkenbonbons. Seien wir ehrlich, alles ist besser als
das.«
Shay
lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück und nahm eine entspannt wirkende
Haltung ein, doch seine Schultermuskulatur war zu Wülsten gespannt, wie bei
einer Raubkatze vor dem Sprung. »Wo sind meine Manieren geblieben? Trinkst du
was? Whiskey, ja?«
»Na, warum
nicht. Macht Appetit vor dem Essen.«
Er
kippelte mit dem Stuhl nach hinten, um bis ans Sideboard reichen zu können, und
holte eine Flasche und zwei Gläser raus. »Eis?«
»Gerne.
Wenn schon, denn schon.«
Seine
Augen blitzten argwöhnisch auf, weil er mich dafür allein lassen musste, aber
er hatte keine andere Wahl. Er nahm die Gläser mit in die Küche: das Öffnen der
Gefrierfachtür, das Klimpern der Eiswürfel. Der Whiskey war gutes Zeug,
Tyrconnell Single Malt. »Du hast Geschmack«, sagte ich.
»Was denn,
überrascht dich das?« Shay kam zurück und ließ die Eiswürfel in den Gläsern
kreisen, um sie zu kühlen. »Und bitte mich bloß nicht, ihn zu mixen.«
»Beleidige
mich nicht.«
»Gut. Wer
den mixen will, hat ihn nicht verdient.« Er goss jedem von uns drei Fingerbreit
ein und schob mir mein Glas über den Tisch zu. »Sldinte«, sagte er und hob das andere.
Ich sagte:
»Auf uns.« Die Gläser stießen klingend aneinander. Der Whiskey brannte golden
auf dem Weg nach unten, Gerste und Honig. Meine ganze Wut war einfach verpufft;
ich war ebenso kühl und beherrscht und bereit, wie ich es immer im Einsatz
gewesen war. In der ganzen Welt gab es niemanden mehr außer uns zweien, die wir
uns über den wackeligen Tisch hinweg taxierten, während das helle Lampenlicht
Schatten wie Kriegsbemalung über Shays Gesicht warf und sich in allen Ecken massige
Schattenberge auftürmten. Es fühlte sich total vertraut an, beinahe beruhigend,
als hätten wir unser ganzes Leben für diesen Moment geübt.
»Und?«,
sagte Shay. »Was ist das für ein Gefühl, zu Hause zu sein?«
»Einfach
irre. Ich bin heilfroh, dabei zu sein.«
»Sag mal,
war das dein Ernst, dass du von nun an regelmäßig kommen willst? Oder hast du
das bloß gesagt, um Carmel aufzuheitern?«
Ich
grinste ihn an. »Wofür hältst du mich? Natürlich hab ich das ernst gemeint.
Und, bist du jetzt ganz aus dem Häuschen vor Freude?«
Einer von
Shays Mundwinkeln zog sich nach oben. »Carmel und Jackie denken, du hättest
deine Familie vermisst. Die können sich ja wohl auf einen Schock gefasst
machen.«
»Ich bin
gekränkt. Willst du damit sagen, mir liegt nichts an meiner Familie? An dir
vielleicht nicht. Aber doch an den anderen.«
Shay
lachte in sein Glas. »Genau. Du hast keinerlei Hintergedanken.«
»Ich will
dir mal was verraten: Jeder Mensch hat Hintergedanken, immer. Aber zerbrich
dir nicht dein hübsches Köpfchen. Ob mit oder ohne Hintergedanken, ich werde
oft genug hier sein, um Carmel und Jackie bei Laune zu halten.«
»Gut.
Erinnere mich daran, dass ich dir zeige, wie du Dad zum Klo und wieder runter
bringst.«
Ich sagte:
»Wo du ja nächstes Jahr nicht mehr so viel hier sein wirst. Wegen dem
Fahrradladen und so.«
Irgendetwas
flackerte tief in Shays Augen. »Ja. Genau.«
Ich
prostete ihm zu. »Alle Achtung. Ich kann mir vorstellen, dass du dich darauf
freust.«
»Ich hab's
verdient.«
»Das hast
du, und wie. Aber die Sache hat einen Haken: Ich werde
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