French, Tana
eine Plörre wie heute Morgen.«
Ich hatte
keine Einwände. Mein einziger Wunsch war, mir Holly zu schnappen und so schnell
wie möglich mit ihr abzuhauen - Ma würde einen Schlaganfall kriegen, wenn wir
nicht zum Essen blieben, aber ich hatte Shay für diese Woche genug
verunsichert, und ich hatte meine Familientoleranzschwelle deutlich zu hoch
eingeschätzt. Ich überlegte schon, wo ich auf dem Rückweg zu Liv am besten
Station machen sollte, um Holly sattzukriegen und mir ihr hübsches kleines
Gesicht anzuschauen, bis mein Herzschlag wieder auf normal sank. Schon an der
Tür sagte ich: »Bis nächste Woche.«
»Hör auf
mich. Geh nach Hause. Komm nicht wieder.«
Er wandte
nicht den Kopf, um mir hinterherzusehen. Ich ließ ihn allein, gegen seine
Kissen gelehnt, den Blick starr auf die dunkle Fensterscheibe gerichtet,
während seine verunstalteten Finger unruhig an losen Fäden zupften.
Ma war in
der Küche, wo sie erbittert auf ein gigantisches Stück halbgaren Braten
einstach und Darren via Carmel wegen seiner Kleidung ausschimpfte (»... kriegt
nie eine Arbeit, solange er sich anzieht wie ein verdammter Perversling, sag
nicht, ich hätte euch nicht gewarnt, also schnapp ihn dir, verpass ihm eine
ordentliche Tracht Prügel und eine anständige Stoffhose ...«). Jackie und Gavin
und der Rest von Carmels Familie saßen in Trance vor der Glotze und stierten
glasig auf einen Typen mit freiem Oberkörper, der irgendwas Glitschiges mit
vielen Fühlern aß. Holly war nirgends zu sehen. Ebenso wenig wie Shay.
21
ICH SAGTE, UND ES WAR mir egal, ob meine Stimme normal
klang oder nicht: »Wo ist Holly?«
Die vor
der Glotze drehten sich nicht mal um. Ma rief aus der Küche: »Die hat ihren
Onkel Shay nach oben geschleppt, damit er ihr bei Mathe hilft - wenn du
hochgehst, Francis, sag ihnen, das Essen ist in einer halben Stunde fertig und
wartet nicht auf sie ... Carmel O'Reilly, komm wieder her und hör mir zu! Der
wird nicht mal seine Prüfung machen dürfen, wenn er da reingeht und aussieht
wie Dracula ...«
Ich flog
die Treppe hinauf, als wäre ich schwerelos. Es dauerte eine Million Jahre.
Hoch über mir konnte ich Hollys plappernde Stimme hören, süß und glücklich und
ahnungslos. Ich atmete erst wieder, als ich oben war, vor Shays Wohnung. Ich
nahm gerade Anlauf, um mich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen, als Holly
sagte: »War Rosie hübsch?«
Ich
stoppte so abrupt ab, dass ich fast mit dem Gesicht gegen die Tür gekracht
wäre, wie eine Comicfigur. Shay sagte: »Ja, das war sie.«
»Hübscher
als meine Mum?«
»Ich kenn
deine Mammy nicht, schon vergessen? Aber wenn ich dich so ansehe, würde ich
sagen, Rosie war beinahe so hübsch. Nicht ganz, aber beinahe.«
Ich konnte
förmlich Hollys leises Lächeln daraufhin sehen. Die beiden klangen ganz
zufrieden zusammen, entspannt, so wie ein Onkel mit seiner Lieblingsnichte
klingen sollte. Shay, dieser unverschämte Drecksack, klang richtig friedlich.
Holly
sagte: »Mein Dad wollte sie heiraten.«
»Kann
sein.«
»Wollte
er.«
»Hat er
aber nicht. Pass auf, wir versuchend noch mal: Wenn Tara
einhundertfünfundachtzig Goldfische hat und jeweils sieben in ein Becken
passen, wie viele Becken braucht sie dann?«
»Er hat
sie nicht geheiratet, weil Rosie gestorben ist. Sie hat ihrer Mum und ihrem Dad
einen Brief geschrieben, in dem stand, dass sie mit meinem Dad nach England
gehen will, und dann hat jemand sie getötet.«
»Das ist
lange her. Aber bleib jetzt mal bei der Sache. Diese Fische hüpfen nicht von
allein in die Becken.«
Ein
Kichern, und dann eine lange Pause, während Holly sich auf ihre Aufgabe
konzentrierte, dann und wann unterbrochen durch aufmunterndes Murmeln von
Shay. Ich lehnte mich an die Wand neben der Tür, kam wieder zu Atem und zwang
meine Gedanken unter Kontrolle.
Jeder
Muskel in meinem Körper wollte hineinstürmen und mein Kind da rausholen, aber
Shay war schließlich nicht komplett wahnsinnig — jedenfalls noch nicht -, und
Holly war nicht in Gefahr. Mehr noch: Sie versuchte ihn zu einem Gespräch über
Rosie zu bringen. Ich weiß aus leidvoller Erfahrung, wie hartnäckig Holly sein
kann, hartnäckiger als so ziemlich jeder Mensch auf diesem Planeten. Und alles,
was sie Shay entlockte, wanderte schnurstracks in mein Arsenal.
Holly
sagte triumphierend: »Sechsundzwanzig, und in das letzte Becken kommen nur
drei.«
»Ganz
genau. Gut gemacht.«
»Hat
jemand Rosie getötet, damit sie meinen Dad nicht
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