Frevel im Beinhaus
ging Adelina zur Tür und ließ ihr Lehrmädchen eintreten. «Willkommen zurück, Mira! Lass dich ansehen, bist du etwa gewachsen?»
Miras bisher ernste Miene hellte sich auf. «Meisterin! Ich bin so froh, endlich wieder hier zu sein. Ich hatte ganz vergessen, wie langweilig das Leben auf der Burg sein kann.Den ganzen Tag nur sticken, nähen und immer über die gleichen Dinge reden.» Sie schüttelte sich. «Da ist es in der Stadt doch viel interessanter.»
«Na, zumindest scheinst du neue Kleider bekommen zu haben. Dein Stiefvater hat es diesmal wohl gut mit dir gemeint.» Wohlgefällig ließ Adelina ihren Blick über Miras taubenblaues Kleid wandern. «Das Waid, mit dem der Stoff gefärbt wurde, muss ein Vermögen gekostet haben.»
«Ach das.» Miras Augen verschleierten sich für einen Moment, doch sogleich lächelte sie wieder. «Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist. Er hat mir gleich drei neue Kleider geschenkt und dazu Schapels und Haarbänder und … Aber ich fürchte, bei der Arbeit in der Apotheke werden die weiten Röcke eher hinderlich sein.» Sie blickte sich um. «Soll ich gleich etwas tun, Meisterin? Ich könnte überprüfen, ob die Arzneibehälter alle ausreichend gefüllt sind. Oder nach den getrockneten Kräutern sehen.»
«Nun komm erst einmal richtig an», bremste Adelina Miras Eifer lachend aus. «Zeig dem Knecht deine Kammer, damit er das Gepäck dort abstellen kann, und dann solltest du in die Küche gehen. Magda hat das Essen fertig – eine gute Gemüsesuppe, in der, wenn mich nicht alles täuscht, sogar ein paar Speckstreifen schwimmen.»
Dankbar nickte Mira und zupfte am Ende ihres langen, kunstvoll geflochtenen hellblonden Zopfes herum. «Das klingt gut, Meisterin.»
«Griet wird sich sehr darüber freuen, dass du wieder da bist. Sie hat dich bereits vermisst.»
Um Miras Mundwinkel zuckte es. Sie konnte ein freches Grinsen nicht mehr unterdrücken. «Bestimmt ist sie es leid, jeden Tag die Waage zu polieren und ganz allein die Böden zu schrubben.» Sie hielt kurz inne. «Sogar darauf habe ich mich gefreut», murmelte sie.
Bevor Adelina etwas dazu sagen konnte, hatte Mira denFuhrknecht hereingewunken und gab ihm Anweisungen, wohin er ihre Reisetruhe bringen sollte.
***
Wie erwartet begrüßte Griet Mira mit einem Freudenschrei und einer festen Umarmung. Auch die anderen Mitglieder des Haushalts freuten sich, das Lehrmädchen wiederzusehen. Das Mittagessen wurde von fröhlichem Geplauder begleitet, welches sich natürlich unvermeidlich auch dem neuesten Stadtklatsch zuwandte.
Mira machte große Augen, als sie von dem Knochendiebstahl erfuhr. «Ach du meine Güte», entfuhr es ihr. «Wer klaut denn die Gebeine von toten Kindern? Bestimmt die Juden, oder? Man sagt doch, dass sie sogar das Blut von Säuglingen trinken und mit ihren kleinen Leichnamen die Brunnen vergiften, um uns die Pest …»
«Mira, um Himmels willen!» Empört starrte Adelina das Mädchen an. «Woher hast du denn diesen Unfug?»
Mira zuckte mit den Schultern. «Alle sagen das doch.»
«Alle?»
Mira zog ob Adelinas scharfem Ton den Kopf ein wenig ein. «Na ja, unser Hauspfarrer, Vater Blasius, hat mir erzählt, dass die Juden vor fünfzig Jahren auf diese Weise die Pestilenz nach Köln gebracht hätten. Er muss es ja wissen, schließlich war er dabei.»
«Als die Juden die Brunnen vergiftet haben?», fragte Neklas mit mildem Spott in der Stimme.
Prompt schüttelte Mira den Kopf. «Nein, als die Pest nach Köln kam. Er war damals noch ein Junge und Novize bei den Benediktinern von Groß St. Martin.»
«So so.» Neklas warf Adelina einen kurzen Blick zu. «Ich glaube nicht, dass die Juden die Knochen aus dem Beinhaus gestohlen haben, und es ist auch nicht erwiesen.»
«Aber …»
«Wir sollten niemals Menschen vorverurteilen, auch nicht, wenn sie einem anderen Glauben anhängen, Mira.»
«Aber …»
«Und nun iss deine Suppe, bevor sie kalt wird», fügte Adelina streng hinzu. Innerlich seufzte sie. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend Mira sein konnte. Dieser Hauspfarrer hatte ihr anscheinend noch mehr Flausen in den Kopf gesetzt.
***
Nach dem Essen schickte Adelina die Mädchen sogleich an die Arbeit und staunte, dass Mira tatsächlich nicht einmal murrte, als sie ihr auftrug, den schweren Alembik innen und außen zu reinigen und für einen neuen Destilliervorgang vorzubereiten. Sie konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Frieden lange währen würde.
Adelina
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