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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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leid, Monsieur. Aber Kirche und Friedhof sind schon seit fünf Jahren geschlossen. Man kann sie schließlich nicht sich selbst –«
    »Für uns ist das schwer vorstellbar«, sagte Madame mit seltsam schriller Stimme.
    »Ich hoffe, es wird dem öffentlichen Wohl dienen, Madame«, sagte Jean-Baptiste. »Und dieses Haus hier wird nicht mehr an einen Ort angrenzen, wo öffentliche Beisetzungen stattfanden. Wird nicht mehr unter den Folgen dieses Umstandes leiden.«
    »Was denn für Folgen?« fragte Monsieur Monnard.
    Jean-Baptiste senkte den Blick auf seinen Teller, wo sein Essen bereits kalt zu werden begann. »Kann das denn ganz gesund sein, Monsieur?«
    »Erscheinen wir Ihnen krank?«
    »Nein. Natürlich nicht. Ich wollte damit nicht andeuten …«
    »Was dann?«
    Und Ziguette begann zu weinen. Ein dünnes Wimmern, gefolgt von einem Schlucken, dann ein aus ihrem Busen aufsteigendes Schluchzen, das Ganze begleitet von einem heftigen Grimassieren, so dass sie Jean-Baptiste wie jemand vorkam, den er noch nie gesehen hatte. Sie floh aus dem Zimmer. Madame und Monsieur wechselten Blicke.
    »Wenn ich …« begann Jean-Baptiste und stand halb von seinem Stuhl auf.
    »Die arme Ziggi verträgt keinerlei Aufregung«, sagte Madame und machte dann bestimmte Bemerkungen, die Jean-Baptiste zunächst unverständlich waren, denen er schließlich aber entnahm, dass Ziguette ihre erste Monatsblutung gehabt hatte und demzufolge außerordentlich empfindlich war.
    Die Fortsetzung dieser unerfreulichen Szene fand später am selben Abend statt. Jean-Baptiste war auf seinem Zimmer, eingehüllt in den roten Damast seines Hausrocks. Er las gerade ein paar Zeilen Buffon, etwas darüber, wie bestimmte nicht giftige Lebewesen die Zeichnung ihrer giftigen Vettern nachahmen, als er das vertraute Kratzen an der Tür hörte; er öffnete und rechnete damit, Ragoût zu begrüßen, statt dessen aber hatte er Ziguette vor sich, weiß wie der Tod und gekleidet in ihr Nachtgewand. Dass sie kein Korsett trug, wurde jedesmal deutlich, wenn sie seufzte.
    Sie wollte sich erklären oder entschuldigen oder beides oder weder noch. Nach einigem Geflüster an der Tür bat er sie herein, und da es nur einen Stuhl gab, bot er ihn ihr an und setzte sich aufs Bett. Über den Hausrock schien sie nicht verblüfft, machte keine Bemerkung darüber. Er legte noch ein Scheit auf das Feuer. Er versuchte sie zu beruhigen.
    »Denken Sie doch nur, wie schön es sein wird, wenn es getan ist. Ein schöner Platz anstelle dessen, was Sie jetzt haben. Vielleicht sogar ein Park.«
    Sie nickte. Sie schien sich zu bemühen, seiner Argumentation zu folgen, aber ihre Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt. »Es ist«, sagte sie nach kurzem Schweigen, »als wollten Sie meine Kindheit ausgraben.«
    »Ihre Kindheit?«
    »Unschuldige, mädchenhafte Tage.«
    »Ich werde nur den Friedhof umgraben. Erde und alte Gebeine. Viele alte Gebeine.«
    »Sie sind nicht hier aufgewachsen«, sagte sie leise. »Sonst würden Sie anders empfinden.«
    Da er ein wenig tiefer als sie saß, hatte sich sein Blick irgendwie auf ihren Schoß geheftet. Er stellte sich ein langsames Hervorströmen von Blut vor, eine auf dem hellen Stoff ihres Nachthemdes erblühende Blutrose, die sich auf ihren Oberschenkeln ausbreitete und dann vielleicht hörbar auf die Bodendielen zu tropfen begann …
    »Wenn es getan ist«, sagte er und hob die Augen zu ihren, »wenn es vorbei ist, werden Sie diejenige sein, die anders empfindet. Das anfängliche Unbehagen wird sich rasch legen. Sie werden sich freuen.«
    Sie stritt nicht mit ihm. Diskret ließ sie den Blick durch das Zimmer wandern, über das Bett, die Truhe, den Tisch mit den Büchern, das Messinglineal. Dann unterdrückte sie ein Gähnen, entschuldigte sich für die Störung und verabschiedete sich mit einem lieblichen, wässrigen Lächeln der Sorte, die man einem Menschen schenkt, der ohne eigene Schuld außerstande ist zu begreifen, was doch eigentlich auf der Hand liegen müsste.
    Als sie die Tür hinter sich zuzog, blickte er zur Decke, zu dem kleinen Loch über dem Bett auf, denn während ihres Gesprächs hatte er ein-, zweimal die Dielen über ihnen knarren hören.
    Er stieg aufs Bett, stellte sich darauf. In dieser Höhe war die Decke für ihn bequem erreichbar. Er spähte in das Loch – nichts, kein Licht, überhaupt nichts. Dann steckte er langsam und vorsichtig den Zeigefinger seiner linken Hand hinein, ganz ähnlich, wie der Comte de Buffon etwa das Nest

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