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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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wechselseitiger Erleichterung fassen sie einander fest bei den Händen.
    »Wir haben unterwegs diverse Abenteuer erlebt«, sagt Lecoeur. »Nicht direkt Kirke oder die Kyklopen, aber gleichwohl nicht ganz leicht zu meistern. Und doch sind wir jetzt hier, bereit zu tun, was du befiehlst.«
    Für jemanden, der in Gesellschaft von dreißig Bergleuten durch sämtliche Unbilden des tiefen Winters unterwegs war, macht Lecoeur einen erstaunlich gepflegten und frischen Eindruck. Auf dem Kopf eine kleine, braune Perücke, das Gesicht ordentlich rasiert, um den Hals ein schmuckes rotes Tuch und in seinem Atem nur ein Hauch des starken Getränks, das vielleicht jedermann, der in der Kälte reist, vorbeugend zu sich nehmen würde.
    »Sind sie vollzählig?« fragt Jean-Baptiste und deutet mit dem Kinn auf die Wagen.
    »Dreißig Mann, alle handverlesen. Ich glaube, du wirst nichts an ihnen auszusetzen haben.«
    »Ich bin dir dankbar«, sagt Jean-Baptiste, »überaus dankbar, aber wir müssen die Wagen in die Straße da bugsieren.« Er zeigt zu der Rue aux Fers. »Sonst wird man uns anschreien. Die Leute hier halten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg.«
    Das Ganze erfolgt in vier Minuten, Wagen und Pferde stehen aufgereiht an der Nordwand der Kirche. Die Männer steigen aus, stehen in kleinen Grüppchen beieinander, schauen von Lecoeur zu Jean-Baptiste, als schätzten sie stumm deren jeweilige Autorität ab, zögen stumm ihre Schlüsse.
    Jean-Baptiste schließt die Friedhofspforte auf. Damit kommt es zur ersten Bewährungsprobe. Die Männer müssen auf den Friedhof, einen Ort, der selbst einen so aufgeklärten Geist wie ihn beunruhigt. Werden sie sich sträuben? Und was dann? Soll man sie zwingen? Wie? Mit gezogenem Schwert? Er hat kein Schwert.
    »Wenn du sie anführen würdest«, sagt er leise zu Lecoeur. »An dich sind sie gewöhnt.«
    »Schön«, sagt Lecoeur. Er geht ohne zu zögern durch die Tür. Die Bergleute schlurfen ihm hinterher. Als der letzte drinnen ist, folgt Jean-Baptiste ihnen, zieht die Pforte zu, tritt zu Lecoeur.
    »Genau wie du versprochen hast«, sagt Lecoeur, »ein ziemlich starker Eindruck.«
    »Man gewöhnt sich daran«, sagt Jean-Baptiste. »Jedenfalls einigermaßen.«
    »Es wird uns anspornen, unsere Arbeit rascher zu tun«, sagt Lecoeur, um ein Lächeln bemüht.
    Tagelang ist zwischen der Kirche und dem Predigerkreuz Holz für ein großes Feuer gestapelt worden. Nun entzünden sie es mit etwas Glut aus der Küche des Küsters. Rauch windet sich in die stille Luft; im Herzen des Feuers ertönt ein Knacken; der Rauch wird dichter; ein Dutzend Flammen schlägt zwischen den Scheiten hervor. Die Bergleute bilden einen Kreis drumherum und wärmen sich die Hände.
    Jeanne kommt heraus. Jean-Baptiste stellt sie Lecoeur vor. Ob die Männer Hunger haben, fragt sie. O ja, zweifellos. Großen Hunger. Dann wird sie zum Markt gehen und Suppe und Brot für sie holen. Es gibt einen Stand, der eimerweise bekömmliche Suppe verkauft. Sie wird sich beeilen und nicht lange brauchen.
    Ihr Angebot, das so praktisch und vernünftig ist, wird umgehend angenommen. Lecoeur wählt aus dem Kreis drei Männer aus, die ihr helfen sollen. Jean-Baptiste zählt ihr Geld in die Hand.
    »Sie sind ganz zahm«, sagt Lecoeur und deutet auf die Helfer. »Sagen Sie ihnen, was Sie von ihnen wollen, und sie tun es.«
    Sie schauen ihr und den hinter ihr hertrottenden Männern nach.
    »Sie wird uns von großem Nutzen sein«, sagt Lecoeur. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie zu ihrer kleinen Jungfrau Maria wird.«
    »Wenn die Männer gegessen haben«, sagt Jean-Baptiste, »müssen sie ihre Zelte aufbauen. Hier, denke ich, in zwei Fünferreihen. Du wirst, wenn du nichts dagegen hast, im Haus des Küsters Quartier nehmen. Dort wohnen nur der alte Mann und Jeanne. Ich denke, du wirst es recht bequem haben.«
    »Ich bin als Werkzeug hier«, sagt Lecoeur. »Wo ich mich nachts niederlege, spielt keine große Rolle.«
    Jean-Baptiste nickt. Er lauscht den leisen Stimmen der Männer und erinnert sich an einen Umstand, den er unerklärlicherweise vergessen hat. Mindestens die Hälfte der Bergleute in Valenciennes spricht nur Flämisch. Als er in den Bergwerken gearbeitet hat, hat er zwei Dutzend Wörter dieser Sprache gelernt, doch sie sind ihm allesamt längst wieder entfallen.
    »Beherrschst du ihre Sprache?« fragt er Lecoeur.
    »Ich glaube nicht, dass ich einer Dame damit den Hof machen könnte«, sagt Lecoeur, »aber für unsere Zwecke, denke

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