Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
ich, wird es reichen.«
Eine halbe Stunde später kehrt Jeanne mit den Bergleuten zurück. Zwei von ihnen tragen dampfende Eimer mit Suppe. Jeanne und der dritte Bergmann tragen jeweils einen Armvoll Brot. Dieser Gruppe folgt Armand, der auf Jean-Baptiste und Lecoeur zukommt, und, noch ein ganzes Stück weit von ihnen entfernt, ruft: »Ich habe den Rauch Ihres Feuers gesehen. Ich hatte schon langsam geglaubt, Sie wären nur ein liebenswerter Träumer. Ab jetzt werde ich Sie stets beim Wort nehmen.«
»Darf ich vorstellen«, sagt Jean-Baptiste, »Monsieur Saint-Méard.«
»Gehören Sie auch zu uns, Monsieur?« fragt Lecoeur.
»Ich glaube, so könnte man sagen«, meint Armand mit einem Blick auf Jean-Baptiste.
»Monsieur Méard ist der Organist der Kirche«, sagt Jean-Baptiste.
»Der ehemalige Organist«, sagt Armand, »sobald die Herren hier mit ihrer Arbeit begonnen haben. Aber ich beabsichtige, an meiner eigenen Vernichtung teilzunehmen. Ist das nicht unser aller Recht?«
»Die Alten waren dieser Überzeugung, Monsieur«, sagt Lecoeur.
»Und wir sind die neuen Alten, nicht wahr?«
»Wir sind die Männer«, sagt Lecoeur, »die Paris reinigen werden. Das habe ich schon bei unserer letzten Begegnung zu meinem Freund hier gesagt. Wir werden so etwas wie ein Beispiel geben.«
»Wir werden die Vergangenheit beseitigen«, sagt Armand in einem zwischen Ernst und Scherzhaftigkeit changierenden Ton. »Die Geschichte hat uns lange genug behindert.«
»Ich pflichte diesen Ansichten völlig bei«, sagt Lecoeur, der die Stimme dabei dämpft.
»Dann wollen wir ihnen bei einer Flasche beipflichten«, sagt Armand.
»In zwei Stunden ist es dunkel«, sagt Jean-Baptiste. »Die Flasche muss warten.«
»Schon schwingt er sich zum Tyrannen über uns auf«, sagt Armand.
Lecoeur macht ein verlegenes Gesicht. »Aber er hat recht, Monsieur. Vollkommen recht. Es gibt hier noch vieles zu erledigen. Dafür brauchen wir einen klaren Kopf. Später vielleicht?«
Suppe und Brot werden ohne viel Aufhebens verzehrt. Die Bergleute lecken ihre Löffel ab, wischen sich mit der Handkante den Bart sauber, spucken aus, kratzen sich, gähnen.
Als Jean-Baptiste sieht, dass sie fertig sind, steigt er die Wendeltreppe zu der schmalen, mit einem Geländer versehenen Kanzel im Giebel des Predigerkreuzes hinauf. Ihm folgt Lecoeur, dann, unaufgefordert, auch Armand. Zu dritt auf der Kanzel, stehen sie sehr beengt, mit dicht aneinandergepressten Schultern. Mit dem freien Arm winkt Jean-Baptiste die Bergleute heran. Sie stehen auf und nähern sich langsam dem Kreuz. Noch eine Eigenschaft dieser Männer, die er vergessen hatte: Das jahrelange Sich-Bücken in den Schächten bedeutet, dass viele von ihnen einen dauerhaft krummen Rücken haben. Sie versammeln sich unterhalb von ihm und legen mühsam den Kopf zurück, um zu ihm aufzuschauen. Er sagt zu Lecoeur: »Ich werde ein paar Worte an sie richten. Dann kannst du, wenn du so freundlich wärst, den wesentlichen Inhalt auf flämisch wiederholen.«
Er räuspert sich. Er hat keine kräftige Rednerstimme, will zwar gehört werden, möchte aber nicht auf sie hinunterbrüllen. »Ihr seid hier willkommen«, beginnt er. »Es kann sein, dass ich einige von euch noch aus Valenciennes kenne. Unsere Arbeit hier wird eine ganz andere sein. Der gesamte alte Friedhof hier und die Kirche hinter euch sollen zerstört werden. Das gesamte Friedhofsgelände wird ausgehoben. Sämtliche Gebeine, alle, die ihr in den Beinhäusern sehen könnt, alle, die im Boden und in den Krypten liegen, werden entfernt und an einen anderen Ort geschafft. Mit den Gebeinen müsst ihr so umgehen, wie ihr mit denen eurer Vorfahren umgehen würdet. Wir werden morgen mit dem ersten der großen Armengräber beginnen. Um die Luft zu reinigen und zirkulieren zu lassen, werden wir ständig mehrere Feuer unterhalten. Die Ärzte sind sich darüber einig, dass Feuer die beste Abwehr gegen Dämpfe darstellt, die wir mit unseren Grabungen möglicherweise freisetzen. Euer Lohn beträgt fünfundzwanzig Sous für ein Tagwerk. Pro Tag gibt es eine warme Mahlzeit plus einen Liter Wein. Ohne meine Erlaubnis oder die von Monsieur Lecoeur dürft ihr den Friedhof nicht verlassen. Eure erste Aufgabe besteht darin, eure Unterkünfte aufzubauen und die Latrinen zu graben. Ihr dürft den Boden nicht beschmutzen. Wir werden jeden Tag arbeiten. Jeder einzelne ist für die Pflege und Instandhaltung seiner Werkzeuge verantwortlich.« Dann, als Nachtrag: »Ich bin
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