Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
herein und fanden, nachdem sie den Schatten des Zimmers durchflogen hatten, wieder hinaus. Zweimal pro Woche kam der Arzt aus Eperrais und machte viel Aufhebens um seinen Patienten. In der Familie wechselte man sich damit ab, sich um die Bedürfnisse des Kranken zu kümmern, ihn mit Suppe zu füttern, ihn an der Bettkante aufzurichten, damit er in den Nachttopf pinkeln konnte, ihm die Lippen zu befeuchten, ihn zu beruhigen, wenn er sich hin- und herwarf. Den ganzen Sommer ging das so – einen ganzen Sommer, gesehen durch die grünen Rauten des Krankenzimmerfensters –, bis der Leidende sich eines Nachmittags, während die Luft sich zum letzten großen Unwetter der Jahreszeit verdichtete, plötzlich im Bett aufsetzte, Jean-Baptistes Hände mit seinen umklammerte, ihm ins Gesicht starrte und mit einer aus dem Eis in ihm hervorbrechenden Stimme sagte: »Ich liebe dich wirklich.«
Liebe? Niemals war zwischen ihnen von dergleichen die Rede gewesen. Keines der Kinder hätte je damit gerechnet, solche Worte vom Vater zu hören. Mit wem also meinte er bei dieser kleinen Auferstehung zu reden? Wusste er, dass es sein ältester Sohn war? Glaubte er, es wäre Jean-Jacques? Oder vielleicht sein eigener Bruder Simon, der Abwesende, mit dem er mehrmals lange, gemurmelte Gespräche geführt hatte? Es gab keine Fortsetzung, nichts, wodurch irgend etwas klarer geworden wäre. Zwei Tage später fiel er in ein ungeheures, undurchdringliches Schweigen. Zwei Wochen danach war er tot, ein Mann, der allem Anschein nach seinen eigenen Namen nicht mehr kannte.
Am Weihnachtsmorgen – und selbst für ländliche Verhältnisse früh – geht Jean-Baptiste mit seiner Mutter zu dem Haus auf dem Hügel, wo sie und ein Häuflein anderer auf die von ihnen bevorzugte Weise beten werden. Die wenigen, die ihnen auf der Straße begegnen, tun so, als wüssten sie nicht, wohin sie unterwegs sind. Madame Baratte ist eine anständige Frau, und es gibt in der Normandie viele, für die das Evangelium Jesu Christi keinerlei Bedeutung hat. Man gönnt ihr ihre kleinen Ketzereien.
Sie gehen durch einen ausgefegten Hof und werden ins Haus eingelassen, kaum dass man ihre Gesichter sieht. Links von der Tür führt eine breite Treppe nach oben, deren Stufen so ausgetreten sind, dass sie an ein ausgewaschenes altes Flussbett erinnern. Am Treppenaufgang befindet sich ein steinerner Pfeiler, in den ein schlichtes Kreuz eingemeißelt ist, und hier ist soviel Platz, dass sechs bis acht Menschen beieinanderstehen können. Ein kleines Fenster gewährt einen Blick auf die Straße – einen Blick, der einmal notwendiger gewesen sein muss. Der Pastor ist Holländer. Er spricht Französisch mit einem Akzent, den Baptiste schon immer leicht komisch gefunden hat. Er ist glattrasiert, hat Augen wie ein Kind. Er schlägt seine Bibel auf. Die Seiten sind zu einem grauen Nichts abgegriffen, aber er muss nicht von ihnen ablesen. Er rezitiert auswendig.
»›Siehe der Herr macht das Land leer und wüste und wirft um, was drinnen ist, und zerstreuet seine Einwohner …‹«
Kein Christkind? Kein Stall? Keine Hirten oder Weisen aus dem Morgenland?
»›Das Land stehet jämmerlich und verdirbt, der Erdboden nimmt ab und verdirbt, die Höchsten des Volkes im Lande nehmen ab, das Land ist entheiliget von seinen Einwohnern …‹«
Hesekiel? Jesaia? Die andern werden es wissen.
»›Eitel Wüstung ist in der Stadt blieben, und die Tor stehen öde … Und ob einer entflöhe vor dem Geschrei des Schreckens, so wird er doch in die Gruben fallen; kömmt er aus der Gruben, so wird er doch im Strick gefangen werden …‹«
Er schont sie nicht. Er würde es nicht für richtig halten, sie zu schonen. Nach einiger Zeit – nach langer Zeit – klappt er das Buch zu und überlässt es der kleinen Gemeinde, schweigend ihr Gewissen zu erforschen, während Jean-Baptiste, den Hut in der Hand, aber ungebeugten Hauptes, auf den Himmel hinausblickt und sich eine Zeitlang in der Schönheit und dem Rätsel des Allergewöhnlichsten verliert. Als es vorbei ist, umarmen die Gemeindemitglieder einander steif und feierlich, dann verlassen sie paarweise das Haus und gehen im heller werdenden Tag ihrer Wege.
Auf dem Hof ist die Küche bereits mit Verwandten gefüllt. Kinder – ein Junge und ein Mädchen, die Jean-Baptiste nur vage erkennt – klettern ihm auf den Rücken, kaum dass er sich hinsetzt. Natürlich ist auch Vetter André da, der wie ein wohlhabender Freimaurer wirkt und die Frauen mit
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