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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Ziguettes Zimmer in Versuchung geführt und folgt dann doch dem Ingenieur in dessen Zimmer. Er stellt die Kerze auf den Tisch, zieht Mantel und Stiefel aus und hüllt sich in den Hausrock. Ist es schon Mitternacht? Später? Seine Uhr steckt in einer seiner Taschen, aber er kann sich nicht überwinden, sie zu suchen. Er bereitet seine Medizin zu – etwa dreißig Tropfen in einem Mundvoll sauren Wein, der so kalt ist wie das Zimmer –, dann entkleidet er sich unter dem Hausrock, bläst, als alles soweit ist, die Kerze aus, macht das Fenster auf, späht hinunter.
    Sind die Frauen fort? Er kann sie weder sehen noch hören. Vielleicht sind sie in die Zelte gegangen, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Wenigstens steht die Kirche nicht in Flammen, und auf dem Friedhof scheint alles in Ordnung zu sein, obwohl im Küchenfenster des Küsterhauses noch ein Licht zu sehen ist. Besäße er das Fernrohr eines Seemanns, könnte er vielleicht ein Stück weit hineinsehen, könnte Jeanne am Tisch sehen. Ihre Tränen sehen? Er schließt das Fenster, legt die Läden vor, kriecht ins Bett, schmiegt die Füße an den warmen Körper des Katers. Dunkelheit, Dunkelheit und nichts zu hören als das Rauschen seines Blutes. Die Arznei wirkt schnell. In ein, zwei Minuten wird sie das erste von vielen Phantasmen der Nacht auf die Rückseite seiner Lider zeichnen, doch zuvor, bevor er versinkt, bevor Schlaf und Mohnsaft ihn völlig atomisieren, schickt er in leiser werdendem Geflüster seinen Atem aus.
    »Wer bist du? Ich bin Jean-Baptiste Baratte. Woher kommst du? Aus Bellême in der Normandie. Was bist du? Ein Ingenieur, ausgebildet an der Ecole des Ponts. Woran glaubst du … Woran glaubst … Woran … du … Woran … Ich … ich … ich …«

11
     
    WAN N DE R ANGRIF F erfolgt ist, lässt sich hinterher nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Irgendwann zwischen sehr spät und sehr früh, in irgendeiner tiefen, samtigen Höhlung der Winternacht. Vom Gewicht der Droge niedergedrückt, hat er geträumt, und dann waren seine Augen offen, und im Zimmer brannte Licht, ein schwankendes Silberlicht. Hinter dem Licht stand an dem kleinen Schreibtisch eine Frauengestalt, eine Kerze in der einen und etwas anderes in der anderen Hand. Sie war vollkommen nackt, das Licht spielte unruhig auf ihrer Haut, schimmerte in ihrem Haar, schimmerte in den kleinen, blonden Löckchen über ihrem Geschlecht. Sie sagte nichts. Seine eigene Stimme kam auf ihn zu, allerdings viel zu langsam. Sie trat neben das Bett und blickte auf ihn herab. Ihr über das Kerzenlicht geneigtes Gesicht wirkte ruhig und beinahe zärtlich, ein Chiaroscuro-Engel, der sich über das Bett eines leidenden Eremiten beugt. Einen Moment lang lächelten sie einander vielleicht sogar an. Dann schwang ihr Arm nach oben, schwang herab, und die ganze Welt zerbrach in einer Welle von vernichtendem Schmerz an seinem Schädel. Ganz kurz war er sich eines Geräuschs bewusst, einer Art Keuchen, das von ihm oder von ihr gekommen sein konnte. Dann zum Glück nichts mehr.

12
     
    WEN N MARI E UN D ihre Neugier nicht gewesen wären, wäre er verblutet. Sie hatte beobachtet, wie er seine Kerze ausblies, war selbst ins Bett gegangen, hatte ein Ave Maria heruntergeleiert, sich ein bisschen zwischen den Beinen gestreichelt und war für eine Minute oder für ein, zwei Stunden eingedöst, ehe sie die Augen aufschlug und einen Lichtfleck auf dem Boden sah. Augenblicklich hellwach, hatte sie ihr Bett verlassen, war über den kalten Boden gekrochen und hatte das Auge an das Loch gelegt. Was hatte es zu bedeuten, dass er mitten in der Nacht seine Kerze anzündete? Sie war sich sicher, dass das bisher noch nie geschehen war. Und dann – noch seltsamer, aufregend seltsam – sah sie, dass er schlief, ganz offensichtlich schlief und dass das Licht von einer Kerze kam, die jemand anders hielt, jemand, den sie noch nicht sehen konnte. Eine Zeitlang, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, obwohl sie in Wirklichkeit wahrscheinlich kürzer als eine halbe Minute war, tat sich gar nichts – nichts! –, und sie war fast außer sich vor Enttäuschung. Wenn, wer auch immer es war, einfach ging und sie nie erfuhr, wer es war, ihn gar nicht zu Gesicht bekam? Oder vielmehr sie gar nicht zu Gesicht bekam, denn sie war überzeugt, dass es sich bei dem heimlichen Beobachter – dem anderen heimlichen Beobachter – um eine Frau handelte. Aber Jesus, Maria und Joseph, was hätte sie auf den Schreck vorbereiten können, Ziguette zu

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