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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Sie griff darunter, zerrte eine Handvoll Stoff hervor und ging damit zurück zum Bett. Sie hielt die Kerze über seinen Kopf, berührte die Platzwunde, deren breiige Ränder. Er stöhnte, erschauerte, als bekäme er gleich einen Anfall. »Ich habe sie nur berührt«, flüsterte sie, drückte dann rasch und ordentlich ein Viereck aus gefaltetem Leinen auf die Wunde (irgendeinen Lappen, mit dem er sich nach dem Waschen abtrocknete) und band es mit einem Halstuch fest. Dann zog sie zur Sicherheit einen ihrer körperwarmen Strümpfe aus, führte ihn unter seinem Kinn hindurch und verknotete ihn auf dem Leinenlappen, der sich bereits dunkel verfärbte. Sie setzte sich aufs Bett und sah ihn an. Ab und zu zitterten seine Augenlider, hoben sich jedoch nicht. Sie tätschelte ihm die Hand, noch nicht bereit, den Alleinbesitz an dieser herrlichen Katastrophe aufzugeben, doch dann war der Gedanke, den halb schlafenden Monnards zu verkünden, was ihre Tochter getan hatte, zu verlockend, und sie nahm die Kerze, ging hinunter in das Zimmer der beiden (ein Bein nackt, das andere bekleidet) und erzählte ihnen alles in der denkbar deutlichsten Sprache, nicht ohne am Ende – sie konnte es sich einfach nicht verkneifen – hinzufügen: »Vielleicht hängt man sie ja sogar auf, Madame.«

13
     
    AUF DEM FRIEDHOF der Unschuldigen haben sich die Bergleute im perlmutternen Licht der achten Morgenstunde an der Pforte zur Rue aux Fers versammelt. Vielleicht von ihren Huren ermutigt, haben sich die meisten bemüht, sich herauszuputzen, mehr nach regulären Untertanen von Louis XVI . auszusehen und nicht so sehr wie Männer, die Knochen, Särge, auf wundersame Weise konservierte Mädchen aus dem Boden wühlen. Jacken sind abgebürstet, Erdklumpen von Stiefeln abgestreift worden. Mancher hat sich sogar gewaschen, seinen Bart entwirrt. Drei der jüngeren Männer – sie stehen, der Tür am nächsten, beieinander – haben Grashalme zu Kronen geflochten und sie sich auf die Krempen ihrer Hüte gesetzt. Andere tragen, wie man bei genauerem Hinsehen erkennen kann, Stücke, die einmal als Totenschmuck verwendet worden sind, aus der klebrigen Erde gepflückte oder gegen eine Nacht in der Ungestörtheit des Zelt eingetauschte Gegenstände. Einer, ein Bursche mit klaren, ruhigen Augen und geraderem Rücken als die anderen, hat sich zwei Gedenkringe übergestreift, Respice finem an der einen, Mens videt astra an der anderen Hand, wo das grün angelaufene Metall einen Finger umschließt, dem das obere Glied fehlt.
    Sie haben längst ihr Brot gegessen und ihren Kaffee getrunken. Sie haben Holz neben dem Feuer am Predigerkreuz aufgestapelt, das in ihrer Abwesenheit von anderen unterhalten werden wird. Sie sind jetzt bereit. Sie sind unruhig.
    Vor dem Haus des Küsters blickt Lecoeur auf seine Uhr, schneidet Grimassen, murmelt leise etwas vor sich hin. Dass Baratte sich ausgerechnet diesen Morgen ausgesucht hat, um zu verschlafen, ist besonders ungünstig. Natürlich fällt es ihm in seiner behaglichen Unterkunft bestimmt nur allzu leicht, diejenigen zu vergessen, die unten wohnen. Die Männer jedoch werden es sehr übelnehmen, wenn man sie herumtrödeln lässt. Er selbst übrigens auch. Fünfzig Tropfen von der Tinktur letzte Nacht! Mindestens fünfzig, und der Himmel weiß, wieviel Alkohol, um sie hinunterzuspülen, doch anstatt ihm einen ruhigen Nachtschlaf zu verschaffen, hat es ihn sich selbst völlig fremd gemacht. Es war – wie soll er es ausdrücken? –, als wäre er, Lecoeur, nur sein Körper gewesen, das tickende Fleisch, und irgend etwas, irgendeine invasive Intelligenz, hauste in ihm, belebte ihn und steuerte sein Handeln. Hat der eigentliche Lecoeur den Entschluss gefasst, mitten in der Nacht nach draußen zu gehen? Ist es so gewesen? Er glaubt es nicht, aber dennoch ist er, mit nichts als seinem Nachthemd bekleidet, zur Werkstatt der Ärzte gegangen, und dort hat er den Sargdeckel abgenommen und im Licht eines glimmenden Stocks vom Feuer, der ihm auf beinahe magische Weise in die Hand geraten zu sein schien, Charlotte betrachtet. Eine schreckliche Erregung! Eine große Belastung für das Herz. Und auch für die Zähne, denn nach den Schmerzen in seinem Kiefer zu urteilen, muss er stundenlang heftig damit geknirscht haben …
    Hinter ihm leise Schritte. Er dreht sich um, sieht Jeanne, die mit einem Tuch um die Schultern aus dem Haus auf ihn zukommt. Sie lächelt ihn an, hübsch wie immer, hat heute jedoch nicht ganz die übliche gute Farbe,

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