Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
nennt dann ein paar beim Namen – Simone, Marie-Anne und dann noch die magere ganz hinten, die La Pouce genannt wird. Die jüngste sieht nicht älter als Jeanne aus, während die älteste – ein großes, freches Geschöpf mit einer Stimme wie ein Oberfeldwebel – fast schon etwas Großmütterliches hat und sich mit wild entschlossenem Humpeln über den unebenen Boden bewegt.
Die Bergleute warten wie die Mannschaft eines verzauberten Schiffs. Die Schar der Frauen umspült sie wie eine Welle. Im Licht des Feuers beginnt eine ausgelassene Feier. Die Männer lassen ihre Flaschen, ihre mit Schnaps gefüllten Blechbecher herumgehen. Die Frauen trinken, geben sich auf professionelle Weise zügellos, suchen sich einen Gefährten, nennen ihren Preis. Die ersten Paare steuern die Dunkelheit an, Arm in Arm, wie Liebende überall. Die Beobachter an der Kirche, die ganz still dagestanden haben (vergleichbar Forschern, die die Zeremonien von Ureinwohnern an einem Strand unter dem Kreuz des Südens beobachten), ziehen sich nun ins Haus des Küsters zurück. Block und Manetti sitzen zu beiden Seiten des Küchenfeuers; der Küster schläft, den Kopf an der Seitenstütze der Sessellehne, Jan Block döst, zuckt beim Eintreten der anderen leicht zusammen und erwidert das Nicken des Ingenieurs mit einer ungelenken, ehrerbietigen Kopfbewegung.
Sie setzen sich an den Küchentisch. Auch hier gibt es Schnaps. (Überall Schnaps, denkt Jean-Baptiste. Am Ende werde ich die Gebeine auf einem Strom von Fusel zur Porte d’Enfer flößen.) Sie unterhalten sich, aber ihr Gespräch wird vom Gejohle und Gelächter des ausgelassenen Treibens draußen gestört. Gedanken werden abgelenkt. Ein Magnetismus von Fleischeslust kriecht um die Kirche wie ein blauer Nebelstreif.
»Wir brauchen Musik«, sagt Lisa Saget und fängt sogleich mit einer schlichten, aber angenehmen Stimme zu singen an, die leicht und mädchenhaft ist, ganz anders als ihre Sprechstimme. Armand stimmt ein. Lecoeur schlägt auf der Tischplatte begeistert den falschen Takt. Der Küster wacht auf, wirkt in seinem eigenen Haus einen Moment lang verloren. Jeanne beruhigt ihn, streicht ihm über die faltigen braunen Handrücken.
Armand greift nach seinem Mantel. »Wir werden richtige Musik machen«, sagt er. »Wir werden den Kerzenladen des alten Colbert plündern. Sie beide« – er deutet auf Jean-Baptiste und Lecoeur – »werden die Blasebälge bedienen. Die Damen werden hübsch dasitzen, und ich, der Musikdirektor, werde zu Ihrem Vergnügen spielen.«
Während Jean-Baptiste noch nach irgendeinem Einwand gegen diesen albernen Plan sucht (jetzt in die Kirche gehen? Musik machen?), knöpfen die anderen schon ihre Mäntel zu. Sie sehen ihn an: Es ist schwer, solchen Blicken zu widerstehen. Er zuckt die Achseln, steht auf. Wenn er sie schon nicht aufhalten kann, so kann er doch wenigstens dafür sorgen, dass sie nicht über die Stränge schlagen, obwohl die plötzliche Aussicht darauf – über die Stränge schlagen! – eine Art lebhaften Durst in ihm weckt, und er folgt ihnen durchaus bereitswillig, wenn nicht gar eifrig zum Haus hinaus.
Sie betreten das südliche Querschiff. Armand geht mit hochgehaltener Laterne voraus, die ein zartes Licht auf Wände voller lateinischer Verse, Daten, guter Werke, Wappenschmuck wirft. Sie schlurfen einer hinter dem anderen her. Ihr Geflüster schwirrt ihnen um den Kopf. Aus dem Dunkel beugen sich ihnen Dinge engegen, tauchen kurz daraus auf. Der goldgesprenkelte Flügel eines Erzengels kräuselt sich, als sie daran vorbeigehen. Eine Jungfrau Maria, das gelbe Gesicht voll heimlicher Belustigung, bedrängt sie von einem Pfeiler aus …
In einer der Kapellen plündert Armand einen eisernen Kasten voller Kerzen, reicht sie nach hinten weiter. Sie drängen sich zusammen, um sie sich gegenseitig anzuzünden. Im heller werdenden Licht sieht Jean-Baptiste an der gegenüberliegenden Wand der Kapelle aufgereiht ein halbes Dutzend große Behälter, in Weidengeflecht gehüllte Krüge aus dickem, grünlichem Glas mit einer klaren Flüssigkeit darin. Am Hals der Behälter hängen an verzwirbeltem Draht Etiketten. Er beugt sich mit seiner Kerze vor, um eines zu lesen.
Äthanol.
Er tritt so rasch zurück, dass seine Kerze ausgeht.
»Haben Sie die da hingestellt?« zischt er Armand zu.
»Die? Die sind letzte Woche gekommen. Etwas für unsere Freunde, die Ärzte.«
»Das ist Äthanol! Reiner Alkohol. Es muss nur eine Flamme darankommen, und die ganze Kirche
Weitere Kostenlose Bücher