Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
könnte niederbrennen.«
»Immer mit der Ruhe«, sagt Armand. »Sie sind fest verkorkt, sehen Sie? Und mit Wachs versiegelt. Es besteht kein Grund zur Sorge. Würde es überhaupt eine Rolle spielen, wenn die Kirche niederbrennt? Würde es uns allen nicht viel Mühe ersparen?«
Der Ingenieur scheucht sie aus der Kapelle, ihm ist erst wieder wohler, als sie das Schiff durchquert und sich um die Orgel versammelt haben. Zu beiden Seiten des Spieltischs befinden sich Messingringe in Form zierlicher Kränze, in die vier Kerzen gesteckt werden. Armand setzt sich. Jean-Baptiste und Lecoeur gehen um den Spieltisch herum zum Hebel des Blasebalgs, einen Meter priapisches Eichenholz, dick wie ein Ruder.
»Ich freue mich, ein bisschen Bewegung zu bekommen«, flüstert Lecoeur, dem der Atem als silbrige Wolke aus dem Mund kommt. »Hier ist es so kalt wie auf dem Mond.«
»Kälter«, sagt Jean-Baptiste.
Die Frauen sitzen Schenkel an Schenkel auf der vordersten Bank, halten wie Büßerinnen ihre Kerzen vor sich.
»Fangen Sie an!« ruft Armand.
Sie fangen an. Ab, auf. Ab, auf. Ab, auf. In den Tiefen auf der anderen Seite der Vertäfelung beginnt das Instrument zu klicken und zu ächzen. Jean-Baptiste kommt es so vor, als müssten sie die ganze Maschine in die Luft hinaufkurbeln, sie physisch hochhieven. Oder aber es ist, als müssten sie einen niedergestürzten Leviathan wiederbeleben, etwas wie den Elefanten, der laut dem Minister den Hunden in Versailles solche Angst gemacht hat. Dann dringt aus dem oberen Pfeifenwerk ein langer Seufzer, der letzte Atemzug der Welt, und daraufhin beginnt, zart wie Regentropfen, die Musik, Voix céleste, voix humaine, trompette, cromorne, tierce – die Klänge schichten sich übereinander, brechen in Wellen. Lecoeur ruft ihm etwas zu. Zur Antwort schneidet Jean-Baptiste eine Grimasse, aber er kann ihn nicht verstehen, kann die Worte nicht hören. Die tiefen Töne füllen die ganze Architektur seiner Brust aus; die hohen tun etwas Ähnliches mit seiner Seele. Mein Gott! Ebensogut könnten sie beide in dem Ding drin sein. Und diese Pumperei. Auf, ab. Auf, ab. Der Schönheit, scheint es, liegt Schwerstarbeit zugrunde, und er beginnt sich ein Gerät vorzustellen, einen automatischen Blasebalg, dampfgetrieben, durchaus machbar, und beinahe hat er es, hat sich den ganzen Mechanismus in geölten Einzelteilen im Kopf zurechtgelegt, als die Musik mitten in einer Tonleiter abbricht.
Er lässt den Pumpenschwengel los und kommt hinter dem Spieltisch hervor. In den Bänken hinter Jeanne und Lisa Saget, im trüben Schimmer ihrer Kerzen, sitzt eine Schar gespenstischer Gestalten, während andere leise ihren Platz hinter ihnen einnehmen. Die Bergleute und ihre Huren. Die Huren mit ihren Bergleuten. Männer und Frauen, gebannt.
»Nun haben Sie endlich doch ein Publikum«, sagt Jean-Baptiste. Armand beobachtet sie in dem kleinen Spiegel über dem Notenständer. Er dreht ein Notenblatt um, streicht es glatt, befiehlt Jean-Baptiste auf seinen Posten zurück.
Es beginnt erneut: eine Introduktion, so zart wie die letzte (man denkt an Näherinnen, sieht Quellen vor sich), und dann, ohne Überleitung, tollkühn gewaltig (man denkt an Postkutschen, Kanonaden), und dann … dann etwas wie ein Handgemenge, ein Tumult. Der Ingenieur und Lecoeur verlassen ihr Ruder. Eine Stimme – eine, mit der Jean-Baptiste schon einmal überfallen worden ist – dröhnt aus der Dunkelheit unmittelbar über ihnen herab, und Wurfgeschosse, kleine schwarze Bücher – Messbücher? – fliegen ihnen auf die Köpfe, treffen mal einen Bergmann, mal eine Hure und klatschen nun – ein erstaunlicher Wurf – gegen die gerötete Wange des Organisten selbst.
Unter denen, die auf den Bänken versammelt sind, herrscht einen Moment lang reine Panik; dann formieren sich die Frauen, junge und alte, und erwidern das Feuer, schleudern dem Bass des Priesters, der sie verdammt, ein schrilles Höhnen, einen Spott, eine so sehr von historischer Empörung angefachte Verachtung entgegen, dass schwer zu glauben ist, dass der Priester sich nicht bald vor Angst in die Hosen scheißt. Wenn sie ihn zu fassen kriegen, wenn sie ihn von seiner hohen Warte herunterzerren können, dann wird die Nacht mit Blutvergießen enden. Vielleicht mit einem Mord.
Mit ausgebreiteten Armen versucht Jean-Baptiste, die Frauen hinauszuscheuchen, aber einige stehen so unverrückbar wie die stämmigen Pfosten, die man zum Schutz der Fußgänger am Rand belebter Straßen
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