Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
Vom Netzwerk:
sehen, wie sie, splitternackt, leise ins Blickfeld trat! Wären mehr als bloß ein, zwei Schluck gestohlenen Weins in ihrer Blase gewesen, hätte sie vielleicht eine Pfütze auf die Dielen gemacht. Ziguette mit ihren großen, rosigen Titten! Der großen, rosigen Wölbung ihres Arschs! Mit der einen Hand hielt sie eine Kerze, und mit der anderen nahm sie etwas vom Tisch des Mieters, etwas, worin sich das Licht fing und das, als es gegen etwas anderes auf dem Tisch stieß, ein leises Klingen von sich gab, das er im Schlaf gehört haben musste, denn er begann sich zu regen. Es war dieses Ding von ihm, dieses Metallding zum Messen. Wollte sie ihn messen? Was wollte sie messen? Seinen Hals, seine Füße, seinen Kikeriki?
    In der letzten Szene, einer sehr kurzen, war er, da konnte sie schwören, wach und sah Ziguette an, obwohl keiner von beiden auch nur ein einziges Wort sagte. In ihrer Phantasie schien Marie bereits zu beobachten, was folgen musste – das Zurückwerfen der Decken, das Einander-Umschlingen, Einander-Küssen und Liebkosen, das Oh und Ah, und über allem sie, wie sie sich auf den Dielen wand. Aber das passierte nicht. Das Metallding, das Lineal, durchschnitt die Luft, traf seinen Kopf und tötete ihn. Sie musste wohl selbst ein Geräusch von sich gegeben haben, ein leises Quieken, denn Ziguette blickte plötzlich auf, das Gesicht ganz dunkel, eine dunkle Maske, und daraufhin, bei diesem Anblick, hatte Marie dann doch ein paar Tropfen von Monnards Wein verloren.
    Leise wie eine Katze stahl sie sich von dem Loch weg, kauerte neben ihrem Bett und lauschte auf Schritte auf der Treppe. Dann, als keine kamen, als kein Türknarren zu hören, keine nackte Herrin mit einem Stück blutigem Metall in der Hand zu sehen war, wäre sie am liebsten ins Bett gekrochen und hätte geschlafen, denn dann, glaubte sie, würde sie am Morgen aufwachen und nichts von alledem wäre geschehen. Und vielleicht hätte sie das auch getan, wenn sie ihn nicht gehört hätte, das Geräusch, das er von sich gab, eine Art Schnarchen, ein schrecklicher Laut, wie von jemandem, der nicht aus einem Alptraum erwachen kann. Sie lauschte und lauschte. Ihre Angst schwand. Wenn die dumme Ziguette hereinkäme, würde sie ihr mit einem ihrer Holzschuhe eins überziehen. Das würde sie außer Gefecht setzen. Mädchen aus dem Straßengewirr von Saint-Antoine hatten keinen Grund, sich vor feinen Dämchen von Les Halles zu fürchten.
    Sie zog ihre Kleider an. Es war stockdunkel, aber sie war vollkommen daran gewöhnt, sich im Dunkeln anzuziehen. Auf bestrumpften Füßen tastete sie sich die schmale Treppe hinunter auf den Flur. Unter Ziguettes Tür ein Lichtschimmer, aber keinerlei Geräusch, weder regte sie sich, noch weinte sie oder tat, was auch immer ein Mädchen tat, das gerade versucht hatte, einem Mann den Schädel zu spalten. Bei genauerem Hinsehen konnte Marie erkennen, dass die Tür nicht ganz geschlossen war und nur einen ganz leichten Stoß brauchte, um so weit aufzugehen, dass Marie den Kopf ins Zimmer stecken konnte. Da war ihre Herrin, lag zugedeckt im Bett, das reinste Unschuldslamm, das Lineal auf dem Fußende, die Kerze auf dem Schränkchen neben dem Bett. Marie beugte sich herein, nahm die Kerze und ging hinüber zum Zimmer des Mieters. Als sie die Tür öffnete, schoss Ragoût an ihren Füßen vorbei und stürzte sich kopfüber die Treppe hinunter. Die Kerze zitterte in ihrer Hand, und sie hätte sie um ein Haar fallen lassen. Sie holte Atem, ging weiter, ging hinein, ging direkt zum Bett und stand vor ihm, genau wie Ziguette. Und wie fürchterlich er aussah! Es erinnerte sie an etwas, was sie in ihrer Kindheit gesehen hatte, an einen Onkel von ihr, so etwas Ähnliches wie einen Onkel, der sich eines glühendheißen Sonntagnachmittags eine Bleikugel in die Schläfe geschossen hatte. Blut, Blut, Blut. Lachen von Blut. Doch im Gegensatz zu ihrem Onkel atmete der Mieter noch, allerdings anders als zuvor, geräuschvoll, aber in flachen, japsenden Atemzügen, ein Luftschnappen wie bei einem Kind, das lange geweint hat. Um eine Blutung zu stillen, musste man sie mit Spinnweben verbinden. Das hatte sie irgendwo aufgeschnappt. Aber wo sollte sie Spinnweben finden? Hatte sie sie nicht selbst – wie es sich für ein gutes Dienstmädchen gehörte – allesamt weggefegt? Sie ging zu seiner Truhe, klappte sie auf. Ganz oben lag ein Anzug aus grüner Seide, der ihr, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, so komisch und so schön erschienen war.

Weitere Kostenlose Bücher