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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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eingeschlagen hat. Es ist Jeanne, die die Haut des Priesters rettet. Sie nimmt die größte und kräftigste Hure, deren General, bei der Hand, und führt sie sanft hinaus. Die anderen folgen ihr, zumal ihre Rufe mittlerweile ohne Antwort bleiben oder nur von ihren eigenen Echos beantwortet werden. Als sie hinaus in die Friedhofsluft treten, ist die Stimmung in allgemeine Ausgelassenheit umgeschlagen. Die Frauen umdrängen Armand, liebkosen ihn, bis Lisa Saget sie mit Worten, die sie alle verstehen, in die Schranken weist.
    Das fröhliche Treiben kommt wieder in Gang: die ineinander verschränkten Arme, die Pärchenbildung. Der Ingenieur sieht eine Zeitlang zu, dann – er zittert vor plötzlicher Erschöpfung (und fragt sich, wie viele Kerzen wohl noch in der Kirche brennen und ob womöglich mitten in der Nacht Alarm geschlagen wird) – nickt er Lecoeur diskret zu, löst sich vom Rand der Gruppe und geht leise in Richtung der Pforte zur Rue aux Fers. Er ist allein – wähnt sich allein – sieht jedoch, bei der Pforte angekommen, dass Jeanne mitgekommen ist. Sie bleiben stehen. Er sagt ihren Namen. Sie lächelt. Ihm wird bang.
    »Du wirst doch nicht von ihnen belästigt?« fragt er mit einer Handbewegung zu der Stelle hin, wo die Gesellschaft am Feuer immer lauter wird.
    »Sie würden mir nie etwas tun«, sagt sie.
    »Nein«, sagt er, »ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer dir etwas tun würde.«
    »Ich bin keine Heilige«, sagt sie.
    »Eine Heilige? Natürlich nicht.«
    »Ich würde es auch niemandem verraten, wenn Sie mich küssen«, sagt sie und legt ihm ganz leicht die Hand auf den Mantelärmel. So leicht wie ein Spatz.
    »Ich bin doppelt so alt wie du«, sagt er. »Oder etwa nicht?«
    »Doch«, sagt sie. »Denn Sie sind achtundzwanzig, und ich bin vierzehn.«
    »Dann bin ich genau doppelt so alt.«
    »Haben Sie eine Geliebte?« fragt sie und nimmt die Hand weg. »Haben Sie ein Auge auf Ziguette Monnard geworfen?«
    »Ziguette?«
    »Sie ist sehr hübsch.«
    »Ich habe kein … ich habe kein Interesse an Ziguette Monnard.«
    »Gute Nacht«, sagt sie.
    »Ja«, sagt er, und sie wartet, wie um festzustellen, ob nichts weiter als »ja« kommt, ob »ja« vielleicht doch noch zu etwas führt.
    Er blickt über ihren Scheitel hinweg. Die Nacht ist kälter als zuvor, klarer. Die Sterne funkeln blau über blauen Dächern. Auf dem Friedhof schimmern die aufgehäuften Knochenmauern wie die Rüstungen eines alten, geschlagenen Heers.
    »Würdest du Lecoeur bitten«, sagt er, »dafür zu sorgen, dass die Pforte abgeschlossen wird, wenn die Frauen gehen? Sehr lange sollten sie auch nicht mehr bleiben.«
    Sie gibt keine Antwort; sie entfernt sich von ihm. Er nickt ihrem Rücken zu, kann sich zunächst nicht aufraffen; dann macht er die Pforte auf und tritt hinaus auf die Straße, macht lange Schritte, als hoffte er, seine eigene Verlegenheit hinter sich zu lassen. Mein Gott, hätte es ihn denn umgebracht, sie zu küssen? Den Kopf ein Stückchen zu senken, bis sich ihre Lippen berührten? Armand hätte es sofort getan, und sie wäre glücklich nach Hause gegangen, anstatt wütend und gekränkt. Und was hat ihn davon abgehalten? Irgendeine lächerliche Zuneigung zu einer Frau, deren Gunst er sich längst für den Preis eines neuen Huts hätte kaufen können? Kann er sein Leben denn nicht ein für allemal auf eine richtige, vernünftige Grundlage stellen? Morgen – morgen ganz bestimmt! – muss er etwas aufsetzen, einen Plan, auf Papier, wie er es früher oft getan hat. Einen Schlachtplan, an dem er sich orientieren kann, einen vernünftigen Plan, der aus dem besten, dem edelsten Teil seines Wesens hervorgeht. Tu dies, aber nicht das. Dies wird zum Erfolg führen, das zum Leben eines Idioten … Soll er denn nichts als ein Körper sein? Ein vorübergehend belebtes Beispiel dessen, was sie Tag für Tag auf Les Innocents ausgraben? Hat so Voltaire gelebt? So der große Perronet seine Jahre verbracht, der in seinem Arbeitszimmer an der Ecole des Ponts zwischen Modellen und Maschinen saß, einem Raum, der – jedenfalls in der Erinnerung – immer von sattem Morgenlicht durchflutet war?
    Als er die Haustür der Monnards öffnet, beginnt er sich ein wenig ruhiger, kompakter zu fühlen, so, wie er sich selbst besser ertragen kann. Auf dem Tisch im Flur tastet er nach Kerze und Zunderbüchse, schlägt Funken, erzeugt eine Flamme. Der Kater schleicht an der Küchentür vorbei, folgt ihm dann die Treppe hinauf, scheint kurz von

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