Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
den üblichen Schwung.
»Seltsam, dass er nicht gekommen ist«, sagt sie.
»Möglicherweise hat er gestern nacht mehr geschluckt, als er verträgt«, sagt Lecoeur.
»Das glaube ich nicht«, sagt sie prompt.
»Ja, ja«, sagt Lecoeur. »Wahrscheinlich ist er mit irgendeiner unerwarteten geschäftlichen Angelegenheit befasst. Einem Treffen mit diesem Lafosse vielleicht. Dem Beauftragten des Ministers.«
Sie nickt. »Werden Sie heute auch unterwegs sein?«
»Ich glaube schon«, sagt Lecoeur. »Monsieur Saint-Méard hat mich eingeladen, mit ihm und einigen seiner Freunde so etwas wie einen Ausflug zu unternehmen. Er hat nicht gesagt, was genau er vorhat.«
»Das wird bestimmt schön«, sagt sie. »Haben Sie den Schlüssel?«
Er zeigt ihn ihr, einen alten Schlüssel in seiner Hand.
»Ich glaube, Monsieur Baratte würde wollen, dass Sie sie gehen lassen«, sagt sie.
»Meinen Sie?«
»Sie nicht?«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.« Er sieht die Männer an, bleckt einen Moment lang die Zähne, senkt den Blick dann auf das Mädchen. »Sollen wir es zusammen tun?« fragt er.
Teil 3
Bald erwachen die Nachbarn und eilen
zum Schauplatz, der nicht mehr dem Tod,
sondern der Liebe dient.
Cadet de Vaux , Mémoire Historique et Physique
sur le Cimetière des Innocents
Steinstufen, die eine lange, steil nach unten führende Treppe bilden. Der Keller. Das Wissen, was darunter ist, darunter sein muss.
Zunächst ist es zu dunkel, als dass er irgend etwas von seiner Umgebung sehen oder verstehen könnte. Es gibt nur den Abstieg, das Gefühl der Stufen unter seinen Füßen. Dann ein weiches, rosiges Licht, ein schmaler Flur, ein Tisch mit einem Metallgegenstand darauf, einer kleinen Glocke. Hinter dem Tisch sitzt eine Frau. Sie hält das Gesicht abgewandt, weiß aber, dass er da ist. Sie läutet die Glocke, und obwohl diese kein wahrnehmbares Geräusch macht, wird der Vorhang am Ende des Flurs sofort zur Seite gezogen. Ein Mann lächelt ihm zu, bedeutet ihm mit einer leichten Kopfbewegung, näher zu treten …
Sie befinden sich in einem Korridor. Zu beiden Seiten hängen Draperien, die vermutlich die Eingänge von Zimmern verdecken. Bei einem davon – wo der Vorhang nicht richtig geschlossen ist – bleibt er stehen und schaut hinein, obwohl es vielleicht gar kein Zimmer ist. Die Wände scheinen aus gestampfter schwarzer Erde zu bestehen. Die Dimensionen sind ebenso unbestimmt wie die Anzahl der Menschen darin, der Männer, Frauen und Kinder, die sitzen, hocken, liegen. Sie schauen zu ihm her. Ihr Blick hat etwas Glühendes. Glühend, großäugig, unergründlich. Er wendet sich ab. Er hat Angst, dass einer von ihnen etwas sagen, ihn ansprechen, seinen Namen kennen wird …
Der Führer wartet am Ende des Korridors. Auch dort Vorhänge. Charmante, einladende Gesten. Er tritt ein, den Führer dicht hinter sich. Was auch immer geschehen wird, es wird hier und jetzt geschehen. Sie befinden sich, wie es scheint, in seinem Zimmer bei den Monnards oder einem ähnlichen Raum, denn es gibt kein Fenster, und die Wände sind kahl. Licht kommt von einer einzigen großen Kerze auf dem Tisch. Auf dem Bett liegt ein Mann. Er trägt nur ein Hemd, die Schöße reichen ihm bis zu den Knien. Seine Augen sind offen, aber seine Lippen sind mit schwarzem Faden grob zugenäht worden.
Der Führer nimmt die Kerze vom Tisch und tritt ans Bett. Es dauert nur einen Moment, sagt er. Wir müssen das Phlogiston freisetzen. Es ist der Wirkstoff der Verwandlung. Der Vernichter von Unreinheiten.
Er beugt sich vor und berührt, als gösse er dem Mann auf dem Bett etwas Kostbares ins Ohr, mit dem Kerzendocht dessen Haar. Es fängt sofort Feuer, brennt wie getrocknetes Gras. Die Flammen gleiten über das Gesicht des Mannes, hüllen seinen Hals ein, rasen über die Haut seiner Brust, seines Bauchs. Wie kann ein Körper so brennen? Ein Mensch sollte nicht brennen wie aufgerolltes Papier! Was ist da geschehen? Was ist das für eine Methode?
In seiner Flammenhülle beginnt sich der Körper zu bewegen. Ein Arm, ein Bein. Der Oberkörper hebt sich – schwebt! – über den brennenden Laken. Der Faden zwischen den Lippen wird aufgetrennt. Der Mund klafft auf. Brüllt, brüllt …
1
» HALTEN SIE IHN FEST «, sagt Guillotin. Er ist über das Bett gebeugt. Ein Stück schwarzer Faden liegt auf dem Gesicht des Patienten wie ein feiner Riss. Marie drückt auf die strampelnden Beine. Sie ist schön kräftig und macht ihre Sache gut.
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