Friedhof der Verfluchten
Fleisch des Halses gegraben, und Sinclair holte aus, um den Kolben gegen den aus dem Grab ragenden Arm zu hämmern, als er mitten in der Bewegung stoppte. Nein, das hatte keinen Sinn mehr. Die Augen des Mörders waren gebrochen. Sinclair hatte oft genug Tote gesehen, um zu wissen, dass diesem Mann keine Macht der Welt mehr helfen konnte. Koonz hatte das Schicksal ereilt.
Noch wusste der ehemalige Anwalt nicht, mit wem er es zu tun hatte. Er bückte sich und fühlte nach Papieren des Toten. Er fand nichts. Keinerlei Hinweis auf seine Identität.
Langsam richtete er sich auf, schaute auf das Kreuz und bemerkte, dass die Totenschädel in einem geisterhaften Grün leuchteten. Das Leuchten besaß etwa den Umfang einer Handspanne. Zwar schluckte der Nebel einiges an Licht, aber das Geisterhafte blieb. Und nicht nur das. Mit Entsetzen stellte Sinclair fest, dass die lippenlosen Mäuler der Schädel sich bewegten. Sie formten Worte.
»Brigadoon ist erwacht. Brigadoon ist erwacht. Die Geister der Vergangenheit kommen zurück und werden die Lebenden holen. Gekommen ist die Zeit der Rache. Hüte dich vor Brigadoon. Hüte dich…«
Schaurige Worte, und jedes Einzelne verstand der Mann. Seine Augen wurden groß, denn er hatte auch die Stimmen erkannt und wusste nun, wer den geisterhaften Gesang ausgestoßen hatte.
Nicht irgendwelche unsichtbaren Geister, nein, das waren die Totenschädel auf dem Kreuz gewesen. Sie hatten gerufen, sie hatten gesungen und gewarnt…
»John muss her!« Der ehemalige Anwalt dachte die Worte nicht nur, er sprach sie aus. Ihm war klar, dass er seinen Sohn so schnell wie möglich alarmieren musste, bevor der Friedhof der Verfluchten und mit ihm der Ort zu einem neuen, geisterhaften Leben erwachte. Die 100 Jahre waren vorbei, deutlicher hätte das niemand Horace F. Sinclair klarmachen können.
Er kehrte um, nahm das Gewehr mit und rannte, so schnell er konnte, zu seinem Wagen zurück. Wie ein Schatten huschte er durch den dichter werdenden Nebel, das Grauen hinter sich zurücklassend. Als er sich endlich hinter das Lenkrad des Jeeps warf, war er völlig außer Atem. Minutenlang hockte er auf dem Sitz, atmete tief durch, keuchte und schluchzte.
Wehe den Menschen, wenn Brigadoon erwacht! Irgendeiner aus Lauder, seinem Heimatort, hatte diese Worte mal gesprochen. Und daran erinnerte sich der ehemalige Anwalt sehr deutlich. Wehe dem…
»Soweit darf es nicht kommen«, flüsterte er, drehte den Zündschlüssel herum und startete. Noch nie in seinem Leben war Horace F. Sinclair den Weg nach Lauder so schnell zurückgefahren…
***
Auf meinen Vater war ein Mordanschlag verübt worden! Die Nachricht erreichte mich abends, nach dem Dienst, als ich in meiner Wohnung saß. Und sie haute mich fast vom Hocker!
Noch jetzt hatte ich seine Stimme im Ohr. »John, du musst unbedingt kommen. Es ist ja nicht nur der Anschlag, sondern auch das andere…«
»Welches?«
Er berichtete mir von Brigadoon. Und da hakte es bei mir ein. Brigadoon ist eine sagenumwobene Stadt gewesen. Ich erinnerte mich, dass man sogar ein Musical darüber geschrieben hat. Kaum vorstellbar, aber es entsprach den Tatsachen.
Und diese Stadt, die der Legende nach alle hundert Jahre wieder erwacht, tauchte nun auf und hatte bereits ein Opfer gefunden, nämlich einen Killer, der meinem Vater das Lebenslicht ausblasen wollte. Ich hatte zwar an diesem Tag keine Geister und Dämonen gejagt, kam mir aber trotzdem ziemlich geschlaucht vor, denn ich hatte Berichte verfasst. Der ganze Kram für das Archiv musste noch ausgewertet werden, und wie immer bei solchen Dingen zog sich dann die Zeit bis zum Feierabend sehr hin.
Aus einem gemütlichen Feierabend wurde natürlich nichts, der Anruf kam dazwischen, für mich eine Ehrensache, dass ich nach Lauder fahren würde, wo meine Eltern wohnten.
Vielleicht traf ich da auch Helen Cloud wieder, ein junges Mädchen, das an meiner Seite ein gefährliches Abenteuer erlebt hatte, als es um die ewigen Schreie ging. [2]
Selbstverständlich musste ich mich abmelden. Sir James Powell, mein Chef, wollte informiert werden. Er ließ mich nur zähneknirschend fahren und bestand darauf, dass Suko in London blieb. Da konnte man nichts machen.
Es wäre falsch gewesen, sofort nach dem Anruf loszubrausen.
Erstens war ich ziemlich geschafft, und bis Schottland war es ein schönes Stück zu fahren, ich wäre sicherlich todmüde in Lauder eingetroffen, das wollte ich keinem zumuten, auch mir selbst nicht. Also legte ich
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