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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Stadt. Ich brachte meine zusammengepreßten Zähne nicht einmal zum Sprechen auseinander. Meine Knie hielt ich so fest umklammert, daß ich mir das Blut abdrückte.
    Am Eingang zum Studiogelände sagte ich zu Crumley: »Du brauchst nicht zu warten. Ich rufe in einer Stunde an und berichte dir alles …«
    Dann ging ich los und stieß das Tor auf. In der Nähe von Halle 13 fand ich ein Telefon und bestellte ein Taxi zur gut hundert Meter entfernten Halle 9, wo es auf mich warten sollte. Dann betrat ich Halle 13.
    Ich ging hinein in die Dunkelheit und das Chaos.
     

25
     
    Ich erblickte zehn Dutzend Dinge, die mir die Seele verwüsteten.
    Direkt vor mir hatte jemand die Masken, Schädel, die Mikado-Beinknochen und die beweglichen Rippenknochen sowie die Knochenmasken des Phantoms auseinandergerissen und quer über die ganze Bühne verstreut.
    Weiter drüben lag die Kriegsszenerie, eine reine Vernichtungsorgie, in Schutt und Asche.
    Roys Spinnenstädte und Käfersiedlungen waren zertreten. Seine Monster hatte man ausgeweidet, enthauptet, zerschmettert – sie lagen im eigenen Plastikfleisch begraben.
    Ich kämpfte mich durch Ruinen voran, durch den Schutt, der überall herumlag, als hätte ein nächtlicher Luftangriff Tod und Verderben über den Miniaturdächern, den Giebeln und Liliputfiguren ausgespien. Rom war von einem gargantuesken Attila geschleift worden. Die große Bibliothek von Alexandria war nicht verbrannt; ihre winzigen Bände lagen wie die Flügel von Kolibris stapelweise in den Dünen. Paris schwelte. Londons Herz hatte man herausgerissen. Ein gigantischer Napoleon hatte Moskau ein für allemal dem Erdboden gleichgemacht. Kurz, die Arbeit von fünf Jahren, vierzehn Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche, war zunichte. Wie lange hatte das wohl gedauert? Fünf Minuten vielleicht!
    Roy! dachte ich. Das darfst du niemals sehen!
    Aber er hatte es bereits gesehen.
    Als ich mich weiter durch zerwühlte Schlachtfelder und zerfetzte Dörfer vorankämpfte, erblickte ich an der gegenüberliegenden Wand einen Schatten.
    Es war der Schatten aus einem Film, den ich gesehen hatte, als ich fünf Jahre alt war: Das Phantom der Oper. In diesem Film waren einige Ballerinas hinter der Bühne herumgehüpft, dann aber plötzlich wie angewurzelt stehengeblieben, hatten in eine Ecke gestarrt, aufgekreischt und waren schreiend davongelaufen. Sie hatten die Leiche des Nachtwächters entdeckt, der dort wie ein Sandsack vom Schnürboden herabbaumelte, langsam hin und her schaukelnd. Die Erinnerung an diesen Film, diese Szene, an die Ballerinas und den toten Mann, der hoch oben im Halbdunkel hing, hatte mich nie mehr losgelassen. Und nun schaukelte dort hinten, an der Nordseite des Filmateliers, ein Objekt an einem langen Spinnenfaden hin und her. Er warf einen immensen, sieben Meter großen Schatten an die leere Wand, als handele es sich um eine Szene aus diesem alten, schrecklichen Film.
    O nein, flüsterte ich. Das darf nicht wahr sein!
    Und doch war es so.
    Ich stellte mir vor, wie Roy hier ankam, seinen Schock, seinen Schrei, seine unendliche Verzweiflung, dann seine rasende Wut, von neuerlicher Verzweiflung erstickt, die schließlich die Oberhand gewann, nachdem er mich gerufen hatte. Dann seine hektische Suche nach einem Strick, einem Seil, einem Stück Draht, und endlich: die Schlinge und der baumelnde Frieden. Er konnte ohne seine herrlichen Mücken und Milben nicht sein, ohne seine Freunde, seine Lieblinge. Er war zu alt, um das alles noch einmal aufzubauen.
    »Roy!« raunte ich, »das kannst nicht du sein! Du wolltest doch immer nur leben.«
    Doch Roys Körper drehte sich langsam, hoch droben im Halbdunkel. Meine Monster sind erschlagen worden, sagte er.
    Sie haben nie gelebt!
    Dann, flüsterte Roy, dann habe ich auch nie gelebt.
    »Roy«, sagte ich, »kannst du mich allein in dieser Welt zurücklassen?«
    Schon möglich.
    »Aber du hättest dich niemals von einem anderen aufknüpfen lassen!?«
    Wer weiß.
    Und wenn – weshalb bist du immer noch hier? Weshalb haben sie dich nicht heruntergenommen?
    Will heißen …?
    Du bist eben erst gestorben. Man hat dich noch nicht gefunden. Ich bin der erste, der dich so sieht.
    Ich streckte mich, um seinen Fuß, sein Bein zu berühren, ich mußte sicher sein, daß es Roy war! Gedanken an die Puppe aus Pappmache schossen mir durch den Kopf.
    Ich reckte mich hoch, wollte gerade zufassen … doch da …
    Dort drüben neben seinem Schreibtisch stand das Podest, auf dem sein größtes

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