Friedhof für Verrückte
meinem Herzen? Wer sind Sie?
Irgendwo hatte ich gelesen, daß in der Sekunde des Todes die Retina des Opfers den Täter fotografiert. Wenn man die Netzhaut also abzöge und in Entwickler badete, würde das Gesicht des Mörders aus der Dunkelheit hervorkommen.
Clarences wilder Blick bettelte darum, entwickelt zu werden. Das Antlitz seines Killers war in jedes Auge eingeschrieben.
Ich stand mitten in der Müllflut und blickte mich um. Unglaublich! Jede einzelne Sammelmappe war ausgeschüttet, Hunderte von Bildern waren zerknüllt worden. Plakate hatte man von den Wänden gerissen, Bücherregale verwüstet. Clarences Taschen hatte man nach außen gekehrt. Kein normaler Einbrecher hätte sich so besinnungslos aufgeführt.
Clarence, der immer Angst hatte, im Straßenverkehr umzukommen, der an jeder Ampel wartete, bis die Autos wirklich standen, damit er seine treuen Lieblinge, seine Sammelmappen, sicher über die Straße brachte.
Clarence.
Ich drehte mich um und hoffte inständig, wenigstens für Crumley einen Hinweis zu entdecken.
Sämtliche Schubladen von Clarences Schreibtisch waren herausgerissen, ihr Inhalt lag auf dem Boden verstreut.
An den Wänden hingen noch einige wenige Bilder. Eines von ihnen nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Jesus Christus auf dem Kalvarienberg, Außendekoration.
Die Widmung lautete: »Für Clarence. FRIEDEN wünscht der einzig wahre J. C.«
Ich riß es aus dem Rahmen und stopfte es mir in die Tasche.
Dann drehte ich mich mit klopfendem Herzen um und wollte davonlaufen, als mir noch etwas auffiel. Ich nahm es sofort an mich.
Eine Streichholzschachtel aus dem Brown Derby.
Noch etwas?
Ich, sagte Clarence, mir ist kalt. Hilf mir.
Oh, Clarence, dachte ich, wenn ich dir nur helfen könnte!
Mein Herz hämmerte. Ich stürzte zur Haustür hinaus und hatte große Angst, jemand könne mich sehen.
Ich rannte davon.
Bloß nicht! Ich blieb stehen.
Wenn sie dich davonlaufen sehen, bist du der Täter! Langsam gehen, stehenbleiben. Ich wollte mich übergeben, doch außer einem trockenen Würgen und alten Erinnerungen schien nichts hochzukommen.
Eine Explosion, 1929.
Nicht weit von unserem Haus wurde ein Mann aus seinem verunglückten Wagen geschleudert und schrie: »Ich will nicht sterben!«
Und ich saß mit meiner Tante auf der Veranda unseres Hauses und preßte mein Gesicht gegen ihren Busen, damit ich die Schreie nicht mehr hören mußte.
Oder als ich fünfzehn war. Ein Auto knallt gegen einen Telefonmast, Leute klatschen gegen Hauswände und Feuerhydranten, ein Puzzle aus zerfetzten Körpern und verstreutem Fleisch … Oder …
Das ausgebrannte Autowrack, hinter dessen Steuer in grotesk aufrechter Haltung eine verbrannte Gestalt sitzt, ganz ruhig hinter ihrer Holzkohlenmaske, mit zusammengeschnürten Fingern, die mit dem Lenkrad verschmolzen sind …
Oder …
Eine Woge von Büchern und Fotografien und signierten Postkarten schlug über mir zusammen.
Ich stieß blind gegen eine Hauswand und tappte eine leere Straße entlang, dankte Gott für die Stille, und endlich fand ich etwas, das ich als Telefonzelle identifizierte. Nachdem ich zwei Minuten lang meine Taschen nach dem Zehner durchwühlt hatte, den ich zu diesem Zweck immer bei mir trug, schob ich ihn in den Schlitz und steckte den Finger in die Wählscheibe.
Gerade als ich Crumleys Nummer wählte, tauchten die Männer mit den Besen auf. Zwei Studiolaster und ein alter verbeulter Lincoln rauschten auf dem Weg zur Beachwood Avenue vorbei. An der Ecke, wo es zu Clarences Apartment ging, bogen sie ein. Bei ihrem bloßen Anblick fiel ich in mir zusammen wie ein Akkordeon. Der Mann in dem Lincoln hätte gut Doc Phillips sein können, doch ich war viel zu beschäftigt damit, mich zu verstecken und in die Knie zu sinken, so daß ich es nicht mit Sicherheit sagen konnte.
»Laß mich raten«, sagte Crumleys Stimme aus dem Hörer. »Ist jetzt tatsächlich jemand gestorben?«
»Woher willst du das wissen?«
»Beruhige dich. Wenn ich dort hinkomme, wird es dann zu spät sein, alle Spuren verwischt? Wo bist du?« Ich sagte es ihm. »Unten an der Ecke ist eine irische Kneipe. Dort setzt du dich rein. Wenn die Dinge wirklich so schlimm stehen, wie du sagst, möchte ich nicht, daß du auf der Straße herumläufst. Alles in Ordnung?«
»Ich sterbe.«
»Bloß nicht. Was soll ich ohne dich den ganzen Tag treiben?«
Eine halbe Stunde später fand mich Crumley zwischen Tür und Angel der irischen Kneipe. Als er mich ansah,
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