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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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sagte Maggie Botwin ruhig. »Es gab keinen Mann auf irgendeiner Leiter, keinen Regen, und Sie sind auch nirgendwo gewesen.«
    »… nirgendwo gewesen«, murmelte ich.
    Maggie kniff die Augen zusammen. »Wer ist denn dieser lustige Vogel direkt neben Ihnen, der mit dem dicken Kamelhaarmantel und der Sturmfrisur und dem riesigen Fotoalbum unter dem Arm?«
    »Clarence«, sagte ich und fügte hinzu: »Ich frage mich, ob er jetzt, in dieser Nacht, noch am Leben ist.«
    Das Telefon klingelte.
    Es war Fritz, im allerletzten Stadium der Hysterie.
    »Sofort hierher. J. C.s Wundmale sind immer noch offen. Wir müssen die Szene abdrehen, bevor er verblutet.«
    Wir fuhren zum Drehort.
    J. C. saß abwartend am Rand der Grube mit den Holzkohlen. Als er mich sah, schloß er seine herrlichen Augen, lächelte und zeigte mir seine Handgelenke.
    »Das Blut sieht beinahe aus wie echt!« rief Maggie.
    »Das könnte man meinen«, sagte ich.
    Groc hatte die Aufgabe übernommen, J. C.s Gesicht mit Puder zu schminken. J. C. sah dreißig Jahre jünger aus, als Groc einen letzten Tupfer auf seine geschlossenen Augenlider aufgetragen hatte, beiseite trat und sein Meisterwerk mit stolzem Grinsen betrachtete.
    Ich schaute in J. C.s gelassene Züge. Er stand dort im Widerschein der Kohlenglut, während ihm ein zäher dunkler Sirup aus den Handgelenken über die Handflächen rann. Wahnsinn! dachte ich. Er stirbt, während er die Szene spielt!
    Nur um das Budget des Films nicht zu überziehen? Warum nicht? Die Menge versammelte sich wieder, und Doc Phillips machte einen Satz nach vorne, um das vergossene Heiligenblut zu begutachten. Er nickte bestätigend in Mannys Richtung. Noch regte sich Leben in den heiligen Gliedern, ein bißchen Saft war noch übrig: Kamera!
    »Fertig?« brüllte Fritz.
    Groc zog sich in den rauchigen Wind zurück, in die Gesellschaft zweier Komparsinnen, den Gewändern nach vestalische Jungfrauen. Der Doc stand wie ein Wolf auf seinen Hinterläufen, die Zunge zwischen den Zähnen, mit unruhig hin und her flackernden Augen.
    Doc? dachte ich. Oder Groc? Sind diese beiden die wahren Könige des Studios? Sitzen sie in Mannys Chefsessel?
    Manny starrte in die glühende Kohlengrube; am liebsten wäre er darüber hinwegspaziert, um zu beweisen, wer der König der Könige war.
    J. C. stand verlassen in unserer Mitte, in sich selbst versunken. Sein Gesicht war so bleich und lieblich, daß in meiner Brust eine Saite zersprang. Seine dünnen Lippen bewegten sich, formten die wunderschönen Worte, die mir Johannes eingegeben hatte, damit J. C. sie heute nacht predigen konnte.
    Und kurz bevor er laut zu sprechen anfing, hob J. C. den Blick über die Städte der Studiowelt zur Fassade von Notre Dame, direkt auf die beiden Türme der Kathedrale.
    Ich sah nur kurz hinauf und blickte mich dann gleich wieder auf dem Drehort um.
    Groc durchbohrte die Kathedrale mit seinem Blick. Doc Phillips ebenfalls. Manny, der zwischen ihnen stand, blickte von einem zum anderen, dann auf J. C. und endlich zu der Stelle, auf die sich einige der Anwesenden konzentrierten, hinauf zu den Dämonen – wo sich nichts bewegte.
    Oder sah J. C. etwa geheimnisvolle Bewegungen, ein Signal vielleicht?
    J. C. sah etwas. Die anderen hatten es bemerkt. Ich konnte auf der falschen Marmorfassade nur Licht und Schatten erkennen.
    War das Monster noch immer dort? Sah es die Grube mit den glühenden Kohlen? Würde es die Worte Christi hören, so gerührt sein, daß es herunterkäme und uns das Wetter der letzten Woche erklären, unsere Herzen beruhigen würde?
    »Ruhe!« schrie Fritz.
    Ruhe.
    »Action«, flüsterte Fritz.
    Und endlich, um halb sechs in der Frühe, in den wenigen Minuten, die noch vor Sonnenaufgang blieben, drehten wir jenes auf das Letzte Abendmahl folgende, allerletzte Abendmahl.
     

44
     
    Die Glut wurde wieder entfacht, frische Fische wurden darauf gelegt, und als von Osten her das erste Licht über Los Angeles kroch, öffnete J. C. langsam die Augen mit einem Blick, der so Mitleid erregend war, daß er seine Anhänger ebenso wie seine Verräter besänftigt und ihnen Beistand gegeben hätte. Dann verhüllte er seine Wunden und lief auf einem Ufer von dannen, das einige Tage später in einer andern Gegend von Kalifornien gefilmt werden würde. Die Sonne ging langsam auf, und die Szene war ohne einen Patzer im Kasten. Am Drehort war kein Auge trocken geblieben, es herrschte ein großes Schweigen, in dem sich J. C. schließlich umdrehte und mit Tränen in den

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