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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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sich für immer verabschiedet hatten, war ich nicht mehr hierher zurückgekehrt.
    Ich klopfte an die Tür.
    Ich hörte das Scharren eines Gehstocks und ein unterdrücktes Räuspern. Die Dielen knarrten.
    Ich hörte, wie Henry seine dunkle Stirn gegen das Holz der Tür lehnte und lauschte.
    »Dieses Klopfen kenne ich«, murmelte er.
    Ich klopfte noch einmal.
    »Ich werd’ verrückt.« Die Tür wurde aufgerissen.
    Henrys blinde Augen schauten ins Nichts.
    »Laß mich tief einatmen.«
    Er sog die Luft ein, ich atmete aus.
    »Heiliger Jesus.« Henrys Stimme zitterte wie die Flamme einer Kerze in einer sanften Brise. »Spearmint Kaugummi. Du also!«
    »Ich bin es, Henry«, sagte ich herzlich.
    Seine Hände streckten sich mir entgegen. Ich umfaßte sie.
    »Willkommen, mein Junge, willkommen!« rief er.
    Dann zog er mich an sich und umarmte mich stürmisch, bemerkte plötzlich, was er getan hatte, und wich wieder zurück: »Entschuldige bitte …«
    »Ach was, Henry. Noch mal.«
    Er umarmte mich ausgiebig ein zweites Mal.
    »Wo bist du nur gewesen, mein Junge, wo bist du nur so lange gewesen? Der alte Henry sitzt hier in diesem riesigen verfluchten Kasten, den sie demnächst abreißen werden.«
    Er drehte sich um, ging zu seinem Stuhl im Zimmer und fand tastend zwei Gläser. »Ist das hier so sauber, wie ich vermute?«
    Ich schaute hin und nickte, besann mich jedoch gleich eines Besseren und sagte: »Jawohl.«
    »Ich will dir ja keine Bazillen anhängen, mein Junge. Mal sehen. Ach, hier.« Er zerrte eine Tischschublade auf und holte eine Flasche allerfeinsten Whiskys heraus. »Trinkst du so was?«
    »Mit dir schon.«
    »Das ist das ganze Geheimnis der Freundschaft!« Er goß ein. Er hielt das Glas in den freien Raum hinein. Irgendwie war meine Hand dort.
    Wir prosteten einander zu; über seine schwarzen Wangen rannen Tränen.
    »Du hast nicht gewußt, daß ein blinder Neger weinen kann, was?«
    »Jetzt weiß ich es, Henry.«
    »Zeig mal.« Er beugte sich zu mir und berührte meine Wangen. Dann schmeckte er an seinem Finger. »Salzwasser. Verdammt noch mal. Du bist genauso sentimental wie ich.«
    »Schon immer gewesen.«
    »Laß dir das nicht nehmen, mein Junge. Wo warst du nur? Hat dich das Leben arg gebeutelt? Warum bist du hergekommen …« Er verstummte. »Oh, oh, Probleme?«
    »Ja und nein.«
    »Eher ja? Ist schon in Ordnung. Ich dachte mir das schon. Wenn du einmal davonrennst, kommst du so schnell nicht wieder zurück. Ich meine, du hast mir doch bestimmt so einiges zu erzählen, oder nicht?«
    »Allerdings.«
    »Dann mal los.« Henry lachte. »Mensch, schön, deine Stimme zu hören. Ich fand immer, daß du gut gerochen hast, will sagen: wenn die Unbekümmertheit jemals schön verpackt durch die Straßen spazierte, dann warst du das, immer zwei Kaugummis gleichzeitig im Mund. Du stehst ja noch. Setz dich hin. Ich werde dir meine Sorgen erzählen, dann erzählst du mir deine. Sie haben die Mole von Venice abgerissen, sie haben die Schienen der Venice-Bahn herausgerissen, sie reißen einfach alles ab. Nächste Woche wird dieses Haus abgerissen. Wo sollen dann all die Ratten hin? Wie sollen wir das sinkende Schiff ohne Rettungsboote verlassen?«
    »Bist du sicher?«
    »Sie haben da unten Termiten eingesetzt, die machen Überstunden. Oben auf dem Dach sitzen die Sprengmeister mit den Dynamitstangen in der Hand, in den Wänden knabbern Hamster und Biber herum, und eine Meute Trompeter übt Jericho, Jericho, draußen in der Gasse, bald werden sie diese Gemäuer zum Einsturz bringen. Wo sollen wir dann hin? Viele sind nicht mehr übriggeblieben. Nachdem Fannie gestorben war, Sam sich totgesoffen hatte und Jimmy in der Badewanne ertrank, dauerte es nicht mehr lange, und wir fühlten uns alle wie auf der Schippe, sozusagen vom Gevatter Tod freundschaftlich in die Rippen gestoßen. Wenn erst mal die Melancholie durch die Flure kriecht, ist ein Wohnhaus schneller leer, als du dich versiehst. Eine kranke Maus, und du hast die ganze Plage.«
    »Ist es wirklich so schlimm, Henry?«
    »Noch schlimmer, aber das ist in Ordnung. Es ist sowieso an der Zeit, weiterzuziehen. Alle fünf Jahre soll man seine Zahnbürste einpacken, ein Paar neue Socken kaufen und ab die Post, das ist schon immer meine Rede gewesen. Kannst du mich irgendwo unterbringen, mein Junge? Ich weiß, ich weiß, dort draußen wohnen keine Schwarzen. Aber, zum Teufel, ich sehe doch nichts, was macht es also aus?«
    »Ich habe ein freies Zimmer in der Garage, wo ich

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