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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sie nicht lange geblieben.« Sie schüttelte den Kopf. »Oder – wenn man es anders sieht – für immer. Die, die bis jetzt wiedergekommen sind, liegen alle bei der Kirche unter den Bäumen.«
    »Die?« , fragte Siri. »Wer denn noch?«
    Frau Ammerland musterte sie einen Moment lang durch das offene Wagenfenster. »Carla Berg?«
    »Ach so, ja, ich … habe von ihr gehört«, murmelte Siri. Etwas stimmte nicht, aber sie konnte den Finger nicht darauf legen, was es war.
    »Lassen Sie mir den Jungen am Leben«, sagte Frau Ammerland, und natürlich meinte sie das nicht wortwörtlich, aber der Satz brannte in Siris Kehle. Sie musterte Siri noch immer, und ihre Augen waren so klar und so eindringlich, dass Siri sich abwandte.
    »Lassen Sie irgendetwas von ihm übrig«, sagte Frau Ammerland. »Wenn das jetzt noch möglich ist.«
    »Sie hören sich an wie eines der Kaninchen«, murmelte Siri und kurbelte das Fenster hoch.
    Sie sah Frau Ammerland im Rückspiegel neben ihrem Auto stehen; sah, wie sie ihr nachblickte.
    Sie sah die geduckten Reetdächer und das blaue Haus auf dem Hügel hinter sich zurückbleiben, die Friedhofsbäume, die turmlose Kirche, in der einst ein kleines Mädchen auf einer Orgel gespielt hatte … dann bog sie auf die Asphaltstraße ab.
    Siri zog den Mantel erst aus, als sie die Autobahn erreichte, es war mühsam, sich aus dem geblümten Stoff zu winden und dennoch nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Die Kontrolle … hatte sie nicht längst die Kontrolle über eine ganze Menge Dinge verloren? Der helle, regenabweisende Stoff des Mantels leuchtete wie die Kreideklippen der Steilküste. Sie legte den Mantel auf die Rückbank. Und dort hinten war etwas.
    Etwas Hartes. Etwas wie … Bücher.
    Sie drehte sich halb um und sah, dass es keine Bücher waren. Es waren Schokoladentafeln. Schokoladentafeln, die vorher nicht da gewesen waren. Keine schwarze Schokolade. Weiße.
    Weiß wie »ich weiß«.
    Es war ein Zeichen. Jemand, dachte sie, hatte etwas begriffen.
    Weiß … weiß wie die Blütenblätter eines Maiapfelbaums auf einem Friedhof, weiß wie ein Schneesturm. Weiß wie Kindersocken in schwarzen Lackschuhen.
    Das Hupen drang erst zu ihr durch, als es so laut und so nah war, dass Siris Kopf beinahe zerbarst, und dann war es auch schon vorüber. Sie sah wieder nach vorne; merkte, dass sie auf der verkehrten Seite fuhr, riss das Lenkrad herum und kam kurz darauf am rechten Fahrbahnrand zum Stehen. Einen Moment saß sie einfach nur im Wagen, zitternd und leise fluchend.
    »Es ist nichts passiert«, flüsterte sie. »Es ist gar nichts passiert.«
    Sie drehte sich wieder um, suchte zwischen den Tafeln nach einem Zettel, einer Nachricht, einem winzigen Hinweis – nichts. Sie zählte zwanzig Tafeln weiße Schokolade. Eine Menge. Wer hatte ihr die Schokolade ins Auto gelegt? Wer hatte ihr diese Botschaft geschickt?
    Sie merkte, dass sie zitterte. Es war nicht wegen des Fast-Unfalls, den sie verursacht hatte. Sie zitterte wegen der weißen Schokolade. Wegen der schwarzen Schokolade. Weil jemand etwas wusste, was niemand hätte wissen sollen. Weiß, weiß.
    Siri Pechton und Iris Weiß.
    Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, öffnete eine der hinteren Türen und schob die zwanzig Tafeln weißer Schokolade hinaus. Ließ sie auf den Seitenstreifen fallen, wo sie liegen blieben, zusammen mit einer nicht ganzen Wahrheit. Dann schlug sie die Tür wieder zu und fuhr weiter.
    Und die Autobahn.
    Der Berliner Ring, dieses äußere Band aus Asphalt und bewegtem Blech, der die aus den Fugen quellende Stadt zusammenzuhalten versuchte, begrüßte sie als alte Bekannte. Die Stadt winkte ihr und saugte sie ein, sie und den alten Golf, nahm sie in ihren Schoß auf wie ein Kind, dessen Geburt sich umkehrt. Sie kroch zurück in den Leib der Stadt. Berlin, Berlin. Aus dir ist alles gekommen, und in dir endet alles, du bist Gebärmutter und Leichenhalle in einem, Anfang und Ende.
    Lenz hatte das Gleiche über das Meer gesagt.
    Siri merkte, dass ihre Gedanken merkwürdige Bahnen zogen. Die Merkwürdigkeit kam vielleicht aus dem Dorf, kam von der Dunkelheit der geduckten Häuser, wo alles möglich erschien. Sie hatte das Dorf hinter sich gelassen, jene uralte Struktur, in der alles zwei Monate später geschah, oder, wenn man genau darüber nachdachte, zwei Jahrhunderte später, jenen Ort, an dem tote Kinder umgingen, weil niemand bezweifelte, dass sie es taten. Es war alles eine Frage des

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