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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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doch etwas zu nah, um vernünftig zu bleiben, die ganze Situation war zu verrückt, Siris Finger lösten ganz von selbst die Knöpfe eines Hemdes, um weiter zu streicheln, weiter zu trösten, weiter zu wandern, nein, das Kinderspiel bekam wieder einen anderen Namen und hieß jetzt Körperteile raten. Sie schlüpfte aus dem Mantel, dessen sorgloses Blumenbunt man hier unten nicht mehr sah, streifte ihr T-Shirt über den Kopf – ein beinahe unmögliches Unterfangen in der Enge.
    Und alles war ganz anders als am Wassergraben, es gab keine Umrisse, kein Abendlicht, keinen Wind – und, im Unsichtbaren, keinerlei Peinlichkeiten. Sie waren ganz allein in ihrem Grab.
    »Fuhrmann!«, brüllte Kaminski. »Hörst du mich? Wenn ich dich jetzt nicht finde, gehe ich, aber wir sehen uns wieder. Und deine Kaninchen, die kriegen wir alle, eins nach dem anderen. Du bist verrückt, du bist ein Perverser und Mörder, ich weiß es, auch wenn’s Leute gibt, die das nicht wahrhaben wollen, die Ammerland zum Beispiel, aber die ist auch nur eine senile alte Frau … irgendwann machen wir dich fertig. Ich finde dich! Du bist hier irgendwo, draußen … draußen im Garten … hockst du da in der Hecke mit deinen dummen Karnickeln …?«
    Siri presste ihren bloßen Oberkörper an Lenz’ bloßen Oberkörper und spürte seinen Herzschlag durch die dünne Doppelschicht aus Kinderhaut und Kinderhaut.
    Das Kinderspiel bekam einen dritten Namen und hieß Mittelpunkte-Finden und war vielleicht schon einmal gespielt worden. Es war ein schwieriges Spiel, wenn man dabei nebeneinander in einem Kartoffelkeller hockte, die Beine angezogen, aber es war möglich. Es gehörte zu den Spielregeln in der Dunkelheit, mit sehr behutsamen Bewegungen weitere Kleidungsstücke zu lösen, den Gürtel einer Hose beispielsweise, obgleich es unmöglich war, sie auszuziehen.
    Beinahe war Siri neu, was ihre Finger darunter entdeckten, denn sie war ein Kind – nein, sie war kein Kind. Es waren jetzt keine Kinderdinge mehr, die sie hier unten taten. Sie war vorsichtiger und weniger fordernd als damals am Kanal. Nichts war selbstverständlich. Sie spürte Lenz’ Hand, die begann, ganz vorsichtig ebenfalls Mittelpunkte zu finden, die zwischen ihre Beine glitt und zögernd tastete.
    Es war nur ein Spiel. Nichts musste sein, nichts musste erreicht werden. Aber das Spiel war gut. Es war wirklich, wirklich gut und sehr erstaunlich. Es wurde von einem Spiel zu einem wirklich abstrusen akrobatischen Akt im Dunkeln, denn es war notwendig, Platz zu sparen, es war kein Platz da. Irgendwie gelang es Siri, auf Lenz’ Schoß zu klettern. Beinahe musste sie lachen, aber sie durfte nicht lachen, sie durfte kein Geräusch machen, gar keines. Kaminskis Schritte hatten sich nie entfernt. Vielleicht stand er immer noch über ihnen in der Küche, nur Zentimeter entfernt.
    Sie hielt sich an Lenz fest und küsste ihn noch einmal, und genau in dem Moment, in dem sie das tat, spürte sie ihn in sich. Es war ein seltsam triumphaler Moment. Wenn es gleich so gewesen wäre, dachte sie, am Kanal, hätte es nie etwas bedeutet. In diesem Moment bedeutete es alles.
    Damals hatte sie sich gewünscht, dass alles vorbei wäre, damit es ein Ereignis in der Vergangenheit wurde, jetzt wünschte sie sich, dass es für immer dauerte, egal, wie eng und unbequem es in dem Grab unter der Erde war. Man konnte sich nicht einmal wirklich bewegen, aber die Bewegungen, die doch stattfanden, waren unendlich sanft.
    Und, wenn sie ehrlich war, hatte sie das Wort »sanft« noch nie in dieser Situation gedacht, über keinen der Männer bisher. Sie hatte nie gedacht, dass es ein Wort war, dass zu Sex gehörte.
    Sie spürte ihn nicht nur in sich, sie spürte auch noch immer seine Finger, die sie streichelten, und sie spürte, durch alles hindurch, seine Erinnerung. Sie spürte das Damals, das Als-wir-hier-zusammensaßen-und-uns-versteckten, sie spürte die Kinderhoffnung Wenn-du-nie-wieder-gehen-würdest und die Kinderangst Aber-wenn-du-gehst. Wie konnte sie das alles spüren?
    »Wir könnten uns einfach für immer hier verstecken«, hörte sie seine Erinnerung mit Iris’ Stimme flüstern.
    »Wir würden verhungern oder verdursten«, hörte sie ihn antworten.
    »Aber dann wären wir für immer zusammen«, flüsterte Iris.
    »Für immer«, flüsterte Lenz. »Es wird nur nicht klappen. Sie werden uns finden. Deine Eltern holen ab und zu Kartoffeln herauf.«
    »Wir müssen uns etwas anderes ausdenken«, wisperte Iris.

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