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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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überhaupt losgefahren bin, um diese Fenster zu machen und … wie? Ach so, zu dir? Nein, tut mir leid, das schaffe ich nicht. Rein zeitlich. Sei nicht böse auf mich … ich muss diese Sache mit den blauen Gläsern klären. Nächstes Mal, wenn ich hier bin, wir treffen uns nächstes Mal, und dann reden wir, ausführlich, über alles.«
    Sie rollte sich auf den Bauch, das Telefon noch immer am Ohr.
    »Vielleicht«, flüsterte sie. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht kann ich nicht so weitermachen wie bisher. Ich dachte das. Dass ich einfach zurückkommen kann und alles weitergeht. Aber vielleicht geht es tatsächlich nicht. Vielleicht kann ich nicht wiederkommen. Nicht in diese Wohnung, nicht in dieses Leben. Vielleicht …« Sie zögerte. »Vielleicht kann ich nicht einmal zu dir zurückkommen.«
    Sie schwieg lange nach diesem Satz, und auch das Telefon schwieg.
    »Das Dorf«, sagte sie schließlich ins Telefon, »es verfolgt mich, weißt du. Ich habe heute darüber nachgedacht, ob es nicht vielmehr ein Symbol ist als eine Reihe von Häusern. Alle Menschen haben ein solches Dorf in ihren Köpfen. Es ist kein Ort, es ist ein Ordnungssystem. Stell dir … stell dir die Häuser als Regale vor, auf die man Gedanken stellt … das Alle-gegen-Einen und Jeder-gegen-Jeden. Und das Dennoch-Zusammenhalten, das einen davor rettet, unterzugehen. Jeder hat einen Winfried Fuhrmann in seinem System und einen Kaminski. Es ist verrückt … manchmal frage ich mich, ob das Dorf überhaupt existiert. Ob es nicht nur ein Gedankenkonstrukt ist. Und gleichzeitig … wenn es ein Ort ist, dann habe ich diesen Ort vielleicht immer gesucht. In allen Städten, in denen ich war, seit ich in dieses Land gekommen bin. Vielleicht war ich deshalb nie irgendwo wirklich zu Hause, seit ich vor fünfzehn Jahren aus einem Flugzeug gestiegen bin.«
    Sie streckte ihre Hand nach dem Bild auf dem kleinen Beistelltisch aus. Das Bild war gerahmt wie ein Fenster, ein Fenster in eine andere Realität. Die Vergangenheit.
    Siri fuhr mit dem Zeigefinger über das Glas, während sie unverständliche Hm-Hms ins Telefon murmelte, fuhr die Umrisse der Personen auf dem Foto nach. Es zeigte ein kleines Mädchen in einem blauen Kleid, auf einer Bank in einem Garten, zwischen ihren Eltern. Der Vater, links, sah in die Kamera und lächelte, in seinen Augen war Sommer; er hatte den Arm um seine Tochter gelegt. Die Mutter, rechts, lächelte auch, doch sie lächelte an der Kamera vorbei in eine Ferne, in der sie vielleicht etwas anderes sah. In der Hand hielt sie eine große Sonnenbrille, die sie offenbar eben erst abgesetzt hatte; sie kniff ihre Augen zusammen gegen das Licht und hatte eine Hand erhoben, als wollte sie sie an die Stirn legen. Als hätte sie Kopfschmerzen.
    Das Mädchen lächelte nicht. Es sah in die Kamera, aber es sah ein wenig trotzig aus, als wäre es zu diesem Familienfoto gezwungen worden und hätte eigentlich gerade etwas anderes vorgehabt.
    »Ja«, sagte sie zum Telefon. »Ich habe es gesucht. Das Dorf. Ich habe es immer gesucht, das Dorf, von dem mein Vater erzählt hat, dieses Dorf, das zugleich meine und seine private Hölle ist und unsere … Erfüllung? Ja. Ja, du hast recht. Das klingt geschwollen. Vergiss es.«
    Sie legte das Telefon auf und starrte eine Weile das verschwommene Dämmerbild an.
    Das kleine Mädchen mit ihren Eltern. In einem Sommerurlaub, in einem Dorf an der Ostsee, vor sehr langer Zeit.
    Schließlich stand sie auf und ging zurück zum Kalender hinüber.
    Beginn des Projekts , las sie noch einmal.
    Beginn des Projekts Lenz Fuhrmann.
    Sie flüsterte seinen Namen. »Lenz.« Er klang seltsam vertraut.
    Vielleicht war es dumm gewesen, »Beginn des Projekts Lenz Fuhrmann« in den Kalender zu schreiben, jeder konnte es lesen. Aber wer sollte hier hereinkommen und sich den Kalender ansehen? Niemand wusste von dem Projekt »Lenz Fuhrmann«.
    Siri erinnerte sich, wie sie den Namen des Dorfes im Internet gesucht hatte und wie sie auf die Ausschreibung gestoßen war – für die Kirchenfenster. Es war wie ein Zeichen gewesen. Sie hatte ihr Angebot für die Fenster so niedrig gehalten, dass sie sie nehmen mussten. Und sie hatten sie genommen; schon einen Tag später war der Auftrag der ihre gewesen. Sie wusste noch, wie sie hier gesessen und die Mail vom Kirchenverein gelesen hatte, sie spürte noch die seltsame kribbelnde Kälte, die sich in ihr ausgebreitet hatte. Sie wusste noch, wie sie ins Bad gegangen war und in den

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