Friedhofskind (German Edition)
Spiegel gesehen hatte, um von Angesicht zu Angesicht mit sich zu sprechen.
»Du wirst also hinfahren«, hatte sie zu sich gesagt. »Zieh es durch. Zieh einmal etwas wirklich durch. Siri.«
Sie nahm den Kalender von der Wand, blätterte vor bis August und hängte ihn zurück. Das Augustbild zeigte das bunte Glas einer Tür in einem behaglichen alten Gutshaus. Sie sehnte sich einen Moment danach, in genau diesem Haus in einer behaglichen alten Küche zu sitzen und Tee zu trinken. Vielleicht gab es in der Welt mit ausschließlich Kaninchen ein solches Haus.
Da waren keine weiteren kleinen, ordentlichen Buchstaben im Kalender, das Blatt für August war bis auf die Zahlen leer. Siri hatte nie ein Ende des Lenz-Fuhrmann-Projekts verzeichnet. Sie hatte nicht gewusst, wann oder wie es enden würde. Sie wusste es immer noch nicht. Und der Beginn war auch verkehrt. Das Projekt hatte nicht im Mai begonnen.
Es hatte vor zweiunddreißig Jahren begonnen.
Es hatte sie ihr ganzes Leben lang begleitet.
»Komisch«, flüsterte sie. »Es war ganz leicht, weißt du, Lenz. Es war ganz leicht, im Dorf aufzutauchen und so zu tun, als wüsste ich deinen Namen nicht. Als wüsste ich niemandes Namen. Als hätte ich mit nichts etwas zu tun. Es war ganz leicht, die fröhliche, selbstbewusste junge Frau zu werden, die alle auf irgendeine Weise mögen. Es war ganz leicht, in das Dorf hineinzukommen.« Sie schüttelte den Kopf, lachte über sich selbst, aber nicht sehr froh. »Und nun«, flüsterte sie. »Komme ich nicht wieder heraus. Nicht mit dem Kopf.«
Sie nahm das Bild der lächelnden, nicht lächelnden Familie vom Nachttisch, zog es aus dem kleinen Rahmen und sah sich das andere an, das sich dahinter befand.
Dieses zweite Bild zeigte das gleiche kleine Mädchen im blauen Kleid, doch jetzt stand es an einem Geländer und sah hinunter. Siri kannte das Geländer inzwischen: Es war das Geländer einer Orgelempore in einer alten Backsteinkirche ohne Turm.
Das Bild war dämmerig und unscharf, man sah den Gesichtsausdruck des Mädchens nicht. Es hatte Orgel gespielt, man hörte die Töne auf dem Bild noch, aber jetzt wollte es fort. Es wollte auf die Bäume klettern und mit dem Wind durch das Hügelland rennen.
Jemand wartete draußen auf das kleine Mädchen. Auch das wusste Siri jetzt. Lenz.
Sie hatten ihr damals nur gesagt, dass Lenz Fuhrmann möglicherweise in der Nacht da gewesen war, in der das Mädchen im blauen Kleid verunglückt war. Dass er möglicherweise etwas damit zu tun gehabt hatte. Dass er möglicherweise schuld war an ihrem Unfall.
Und Siri hatte gedacht, er wäre erst in dieser Nacht ins Spiel gekommen; ein Dorfjunge, der ein kleines Mädchen vielleicht angehimmelt hatte, von ferne.
Nein, sie hatten ihr nie erzählt, dass die beiden wirklich ein Paar gewesen waren, Lenz und Iris, ein Kinderpaar, unzertrennlich.
Es stimmte ja nicht, dass er sie nicht hatte gehen lassen. Er hatte sie gehen lassen. Sie war gegangen. Sie war in ein Auto gestiegen und mit ihren Eltern weggefahren.
Aber sie war zurückgekommen.
Auf irgendeine Weise.
Allein.
Und dann? Was war geschehen, in jener Nacht, auf dem Meer? Was hatte Aljoscha gesehen? Was hatte er Siri sagen wollen?
Sie hielt das Bild nah an die Augen im Halbdämmer der Wohnung, doch Iris-auf-dem-Bild schwieg.
Siri legte sie zurück auf den Beistelltisch, mit der Bildseite nach unten. Sie wollte das blaue Kleid nicht mehr sehen.
»Lenz«, flüsterte sie noch einmal in die Stille der Wohnung. »Lenz.«
Als es draußen dunkel wurde, lag Siri mit geschlossenen Augen auf dem Bett.
Möglicherweise war ihr Gesicht nass.
Sie hatte den braunen Männerschal in den Schrank gelegt, wo sie ihn nicht sehen konnte, nicht einmal dann, wenn sie das Licht anmachte.
Sie dachte an eine andere Dunkelheit, die enge Dunkelheit eines Kartoffelkellers. Sie dachte an ein Kaninchen, das in der Armbeuge eines Riesen schlief. Sie dachte an geflüsterte Worte. Natürlich bist du schön …
Sie sah ihn vor sich; hinter ihren geschlossenen Lidern: den Totengräber, das Friedhofskind, sah ihn wieder von der Mauer springen, an jenem allerersten Tag. Sah ihn auf sich zukommen:
Der Riese in der dreckigen grauen Arbeitsjacke, mit dem verblichenen Halstuch, nichts als Abwehr im Blick. Er hatte sie erschreckt, seine schiere Größe hatte ihr Angst gemacht an jenem ersten Tag.
Und dann?
Dann hatte sich alles auf langsame und merkwürdige Weise geändert.
Siris Plan war besser aufgegangen, als sie
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