Friedhofskind (German Edition)
»Etwas, wie wir für immer zusammenbleiben können … wir haben doch die Bucht. Die Bucht und das Ruderboot. Weißt du noch, letzte Woche, als Sturm war und Aljoscha sagte, wir sollten nicht hinauspaddeln, wenn wir nicht lebensmüde wären …«
»Sch, sch«, flüsterte Lenz. »Da kommt jemand.«
Siri hörte die Schritte direkt über der Klappe, und dann hörte sie die Stimme eines Erwachsenen, die bis ins Kartoffelgrab hinuntertönte.
»Von mir aus!«, rief der Erwachsene. »Ich gehe! Für heute! Aber falls du doch irgendwo hier steckst … wenn Dirk zurückkommt, wirst du schön den Mund halten, hörst du? Das wollte ich dir noch sagen. Wenn du dem was sagst, über Karin und mich, dann machen wir dich noch ein bisschen früher fertig und noch ein bisschen gründlicher. Ach, Scheiße, hier is wirklich keiner.«
Es war kein Erwachsener aus einer Erinnerung, es war Kaminski, und nun entfernten sich seine Schritte auf eine endgültige Art. Siri war wieder in der Gegenwart angekommen, und in dieser Gegenwart presste Lenz sie einen Moment lang so fest an sich, dass sie keine Luft mehr bekam. Als der Moment vorüber war, verebbten die Bewegungen unter ihr, aber seine Hände, schwielig vom Graben, vom Pflanzen, zerstochen von Dornenranken, kehrten zurück an erstaunlich richtige Stellen, ohne Eile. Sie gewann das Nichtkinderspiel Sekunden nach ihm.
Und dann? Dann war alles vorüber und nichts vorbei.
Die Männer bisher, die nichtzahlreichen, nichtsanften, nichtinteressierten, nurhungrigen und im Übrigen auch nichtaufsiewartenden, waren hinterher aufgestanden und hatten andere Dinge getan. Nicht gerade geraucht, es war zu sehr Hollywood, zu rauchen. Aber doch andere Dinge.
Wer sich satt gegessen hat, kann wieder gehen, oder nicht? Siri hatte Sex immer als eine Art Drive-in betrachtet, in jedem Sinne.
In der Dunkelheit des Kartoffelgrabs ging niemand. Wohin auch, es gab keine Richtungen.
Sie enthedderten sich nach einer Weile, weil es zu unbequem war, genau so zu verharren, aber sie blieben nebeneinander, beieinander, aneinander. Man hätte sich waschen gehen sollen. Na und?
»Ich dachte nicht, dass …«, sagte Siri.
»Lass uns nicht darüber sprechen«, sagte Lenz. »Es nicht totreden.«
»Kann ich was Dummes fragen? Wenn es nichts mit … mit eben … zu tun hat?«
Er lehnte sein Gesicht an ihres. »Hm?«
»Kaminski … was er glaubt … was alle glauben. Du redest nicht wirklich mit den Toten, oder? Ich meine … kannst du sie rufen? Helfen sie dir?«
»Nein«, flüsterte Lenz mit einem leisen Lachen. »Unsinn. Natürlich nicht.«
»Sie sagen, du hättest immer schon da gesessen, auf dem Friedhof, und ins Leere gestarrt … und manchmal mit dir selbst geredet … schon als Kind.«
»Genau das. Ich habe ins Leere gestarrt und mit mir selbst geredet. Sie haben anfangen, etwas anderes draus zu machen. Bitte. Wenn sie dir Geld geben wollen, um dich milde zu stimmen, sagst du nicht Nein. Nicht als Kind, auf jeden Fall. Ich hätte Nein sagen sollen. Es ist zu spät.«
»Ja. Ich fürchte … aber … Lenz … Iris? Du sprichst mit Iris?«
Er ließ eine Weile verstreichen, ehe er antwortete. »Ich glaube«, sagte er schließlich, »sprechen kann jeder nur mit seinen eigenen Toten. Es hat nichts mit Geistern zu tun. Verstehst du? Iris ist kein Geist. Sie ist …«
»Eine Erinnerung.«
»Vielleicht.«
Siri griff nach oben, fand die Luke und schob sie auf, um das Licht auf seinem Gesicht zu sehen, wenn sie es ihm sagte. »Lenz«, sagte sie. »Ich sehe sie auch. Ich sehe Iris.«
Doch sie sah gar nichts, weder die Reaktion in seinen Augen noch sein Gesicht; das plötzliche Licht war zu grell. Als sie wieder etwas erkennen konnte, war Lenz bereits aus der Luke geklettert und reichte ihr eine Hand entgegen, um sie hochzuziehen. Er schien nicht gehört zu haben, was sie über Iris gesagt hatte.
»Wir sollten etwas anziehen«, murmelte er.
Siri bückte sich, fischte ihre Kleider und den geblümten Mantel aus dem dunklen Raum im Verborgenen.
»Bei Gelegenheit können wir es ja wieder ausziehen«, sagte sie.
Der Tag ging und die Nacht kam, und zwischen den Wolldecken lagen zwei, von denen niemand wusste, dicht an dicht wie schon einmal und doch ganz anders.
»Wir müssen aber nicht jedes Mal in den Kartoffelkeller kriechen, um das zu tun, oder?«, fragte Lenz mit einer neuen Art von Lächeln hinter der Stimme.
»Ich denke nicht …«, sagte Siri und streckte ihre Hand nach ihm aus.
Und
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