Friedhofskind (German Edition)
Betrachters …
Aber sie, sie war wieder da: im Licht. Unter Menschen. In der Welt. Und alles, was es hier zu betrachten gab, waren die beleuchteten Schilder an den Autobahnausfahrten.
Pankow.
Sie bog ab.
Das Dorf – das Dorf war namenlos geblieben in ihrem Kopf, obwohl es natürlich einen Namen hatte, er stand auf dem Ortsschild, ordentlich aufgedruckt, aber es blieb namenlos, denn es war nicht nur ein Dorf, es war alle Dörfer der Welt, alle abgelegenen Dörfer an allen einsamen Küsten; es war ein Symbol. Hier hatten die Dinge Namen. Sie fuhr beim Kreuz Pankow raus und parkte eine Viertelstunde später in einem nichtssagenden grauvielstöckigen Neubaugebiet neben anderen nichtssagenden Autos. Suchte den Schlüssel in ihrer Tasche, befürchtete einen Moment lang mit leichter Panik und einem schmerzhaft ängstlichen Pochen hinter den Augen, dass sie ihn in Frau Hartwigs Kellerwohnung vergessen hatte – fand ihn, aufatmend, und drehte ihn im Schloss.
Ging fünf Treppen hoch. Es gab keinen Fahrstuhl. Die Wohnung war billig. Sie hatte damals Werkstatträume ein paar Straßen weiter gefunden, das war es, was zählte. Sie war jetzt seit fünf Jahren in der Stadt, davor war sie in anderen Städten gewesen, es hatte nie etwas bedeutet, man zog um, wenn die Zeit reif schien.
Es war eine Lüge, dass sie altes, geliebtes Teegeschirr besaß.
Hätte Frau Hartwig je genauer nachgesehen, hätte sie das neue Preisschild auf der bauchigen Kanne mit den blauen Streublümchen bemerkt und die Preisschilder auf allen Tassen: Sonderangebote aus dem Supermarkt an der Ausfahrtsstraße, neu und billig.
Einen Moment stand Siri im Flur und sog den Geruch der Wohnung ein. Der Flur roch nach etwas Abgestandenem, Saurem, aber sie hatte die Quelle des Geruchs nie gefunden. Vielleicht war es etwas, das aus früheren Zeiten in der Auslegeware saß.
Sie schlüpfte aus dem geblümten Mantel (ein Sonderangebot aus dem Kleiderdiscount um die Ecke, wenige Tage vor ihrem Weggang gekauft), legte ihn über ihren Arm und begann, durch die Wohnung zu wandern: durch den Flur, die winzige Küche, das Wohnzimmer mit seinem Fenster, vor dem sich die unendliche Stadt erstreckte.
Es war unnatürlich still.
»Siri«, sagte sie laut. »Ich bin. Ich bin Siri. Ich bin zu Hause.«
Aber als sie weiter durch die Wohnung wanderte, da fühlte es sich gar nicht an wie zu Hause. Nicht mehr. Sie fuhr mit dem Finger über ein Bücherregal und sah den Staubflocken zu, die durch die Luft segelten. Sie hob einen Stein hoch, den sie als Papiergewicht benutzt hatte und der auf dem kleinen Wohnzimmertisch lag, auf einem Stapel alter Rechnungen und Belege – wog ihn in der Hand, legte ihn wieder hin. Es war, als besuchte sie ein Museum. Hier hat damals Siri Pechton gewohnt, ehe sie in ein Dorf ging, um den seltsamsten Auftrag ihres Lebens zu erfüllen.
Auf dem Tisch stand ein Strauß Blumen, vertrocknet, schwarz, mumifiziert.
An der Wand neben dem Bücherregal hing der Kalender, noch immer aufgeschlagen beim Blatt »Mai«. Er zeigte das bunte Glasfenster eines Gartenhauses, vor dem der Flieder blühte. Siri trat vor den Kalender und legte den Finger unter die kleinen, ordentlichen Buchstaben; ihre eigenen, die schräg durch die ersten Tage von »Mai« liefen:
Beginn des Projekts …
Sie ließ sich aufs Sofa fallen, das sie gleichzeitig als Bett benutzte – oder benutzt hatte? –, lag eine Weile flach auf dem Rücken und starrte an die Decke, die Straßenschuhe noch immer an den Füßen, den Regenmantel im Arm. Sie dachte an Frau Hartwigs Kellerwohnung.
In Frau Hartwigs Kellerwohnung hätte sie jetzt nach dem roten Telefon gegriffen. Sie war durcheinander, sie war erschöpft, sie brauchte jemanden, mit dem sie reden und der sie trösten konnte. Hier gab es kein rotes Telefon.
Es gab ein schnurloses Telefon auf dem Nachttisch.
»Ich bin in der Stadt«, sagte Siri, noch immer auf dem Rücken liegend, in das nicht-rote Telefon. »Ich bin in Berlin. Ich bin hier.«
Sie lauschte eine Weile in den Hörer, die Augen geschlossen. »Ja«, sagte sie dann. »Nein. Ich wollte … ich wollte einfach nur mit dir sprechen. Die Wohnung … es ist merkwürdig, aber … denk dir, ich wohne hier nicht mehr. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich hier wohne.«
Sie lauschte wieder, es tat gut, zu lauschen, zu schweigen und ein Telefon festzuhalten.
»Ich werde mich mit meinem Vater treffen«, sagte Siri schließlich, sehr leise. »Er weiß nichts davon, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher