Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
nachts stets isoliert werden. Schmiert oft mit Kot. Ißt Kot. Uriniert in seinen Stiefel oder sein Trinkglas und trinkt den Urin aus oder salbt sich damit. Salbt einmal sein Bein mit Kot ein. Wickelt Kot in Papier und legt ihn in eine Tischschublade. Sammelt Papierschnitzel und Lumpen. Oft Zornesausbrüche. Gibt einem Mitpatienten einen Fußtritt. Hat nachts ‹ganz verrückte Weiberchen› gesehen. ‹Nachts sind 24 Huren bei mir gewesen.› Schlug ganz plötzlich einige Scheiben ein. Behauptet, hinter dem Fenster einen Flintenlauf gesehen zu haben. Zerbricht ein Wasserglas, ‹um seinen Zugang durch Glassplitter zu schützen.› Bittet öfter um Hilfe gegen nächtliche Torturen. Bettet sich fast stets neben das Bett auf den Boden. ‹Ich werde immer vergiftet.›»
Mutter Nietzsche musste auch zum Spazierengehen mit ihrem Sohn zwei starke Wärter mitnehmen, nachdem der Kranke sich einmal unterwegs splitternackt ausgezogen hatte, da er ein Bad nehmen wollte. Elisabeth traf im Dezember 1890 aus Paraguay ein, um ihren irre gewordenen Bruder zu sehen. Das Projekt «Nueva Germania» war kläglich gescheitert; Bernhard Förster hatte sich, als er die Schulden für das Projekt nicht mehr bezahlen konnte, das Leben genommen, und Elisabeth, die in der wörtlich zu nennenden Pampa eine Art bessere Landwirtin hatte abgeben müssen, hegte bei ihrer Rückkehr vorerst trotz allem die Hoffnung, das Paraguay-Projekt für die Zukunft zu retten. Sie war unverwüstlich. Da mit dem geistig präsenten Bruder in der Vergangenheit kein Staat mehr zu machen war und sich «Nueva Germania» trotz ihrer Propaganda-Aktivitäten nicht wieder aufrichten ließ, vermarktete sie später den wahnsinnigen Bruder. Viele Jüngere kannten Nietzsche nur aus dieser gruselbehafteten Rückwärtssicht: als Geist, der gebrochen war und mit stierem Blick vor sich hin dämmerte nach seinen Drahtseil-Akten vermessenen Denkens. War der Teufelsbündner an seinem Widersacher gescheitert oder an dem, mit dem er im Bunde war? Auch für moderne Geister, die vielleicht auch die Spätromantik längst hinter sich hatten, nicht aber ihre Ironie und das Spiel, die stimulierenden Bilder, blieb er ein Faszinosum, der irre gewordene Philosoph. Für die medizinischen Gutachter war der Fall weitgehend klar: Paralyse infolge fortschreitender Lues, also die Folge einer Syphilis-Infektion. Aber selbst mit einem streng positivistischen Weltbild würde man den Fall darauf kaum beschränken.
Der große Selbstüberwinder hat gegen alles gekämpft, was gerade bei ihm in außerordentlichem Maße angelegt war: das Verfallensein an die Musik, Religiosität, Mitleid, Reizbarkeit, Idealismus, Krankheit, Pessimismus und Melancholie. Er schrieb es mit seinem Blute, sein Werk, und vergewaltigte seine eigene Natur. Philosophen, so schrieb er, das sind Wesen, die oft vor sich selbst davonlaufen und die oft vor sich Furcht haben, die aber dann doch immer zu neugierig sind, um nicht immer wieder «zu sich zu kommen» . Er sei ein Décadent, stellte er fest, so wie alle bedeutenden Geister seiner Epoche. Wagner vor allem; der aber war ein Décadent, ohne es doch zu wissen und ohne die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Stattdessen ästhetisierte er in seinem Werk alles Krankhafte; das jedenfalls blieb Nietzsches Endurteil neben seinem Bekenntnis zur «Sternenfreundschaft» , die auf der Erde versagte. Was ist Décadence? Der Begriff – wörtlich «Entartung», «Verfall» – kommt aus der Geschichtsphilosophie, erstmals verwendet im Zusammenhang mit dem Niedergang Roms, und ist eingebunden in eine Weltsicht, die Geschichte als eine Folge von Aufstieg und Untergang sieht. Als ästhetischer Begriff eingeführt wurde er im 17. Jahrhundert von dem Franzosen Boileau, der die «Querelles des Anciens et des Modernes» auslöste. Prominent wurde er schließlich durch Montesquieu und Edward Gibbon. Beide beschäftigten sich intensiv mit dem Aufstieg und Untergang des Römischen Reichs. Dass allen Niedergangskulturen eine Verfeinerung im Geistigen und Seelischen aneigne, war den «Spätlingen» in Nietzsches Zeitalter völlig bewusst, auch wenn es mit ihrer «Spätzeit» noch eine spezielle Bewandtnis haben mochte, allein schon durch das Aufkommen der Psychologie. Der Verfall eines Weltbildes – zum Beispiel durch Gottestod, Sturz der Metaphysik – bringt orientierungslose und vitalschwache Menschen hervor, denn nur die starken Naturen können die einschneidenden Verluste bewältigen. Der
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