Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
hat es nie verschmerzen lernen, das Reich des Trostes verloren zu haben, in welchem ihn Religion und Kunst wie ein geängstetes Kind einlullten, während die Wissenschaft für die Bangigkeit des Gemüths kein Ruhekissen gewährte. Der enttäuschte Mensch wurde besänftigt und eins mit sich unter dem Erklingen einer Melodie; Zarathustra, der Gott- und Wahnlose, kannte nie mehr diesen Frieden seines Herzens, das vergeblich ausgedörrt werden sollte. Und weil dies nicht gieng und immer etwas weiterlebte, kam der Ausbruch des Hasses in dem giftigen Pamphlet wider den alten Zauberer des ‹Parsifal› und die grässlichste Anklage, die je wider einen Gott erhoben wurde, im ‹Antichrist›. Hier verräth sich die wunde Stelle des inneren Lebens Nietzsches und der unversöhnliche Zwiespalt zwischen dem Denker und dem Menschen. Dieser kann ohne religiöses Gefühl und Musik nicht leben, jener versucht für sein Leben immer umsonst sie durch die Erkenntnis ihres Ranges zu berauben. Der Mensch siegt über den Denker, um dem Fatum zu erliegen.» Eine sehr viel profanere Erklärung für das schlimme Ende des Herrn Professor hatte der Wirt des Gasthofs «Zur Alpenrose» in Sils Maria, der berichtete, Nietzsche habe bis zu drei Kilo Obst pro Tag «von vorbeiziehenden Italiänern» verspeist und seine Beefsteaks verschmäht. Das habe den Mann ruiniert, diese fatale Diät. Gian Durisch, sein Zimmerwirt, sah das Übel weit mehr in geistiger Überarbeitung, von der sein langjähriger Hausgast ihm auch sinnreiche Anekdoten aus seiner Kindheit und Jugend erzählte: So habe Nietzsche, gibt Durisch wieder, als Schüler ganze Nächte durchgearbeitet, mit einem Eimer kalten Wassers unter dem Tisch. Wurde er müde, so stellte er zwecks Durchhaltens die Füße hinein. So etwas musste doch, meinte der bodenständige Mann, einen Organismus nachhaltig schädigen. Durisch benutzte gelegentlich Manuskriptbögen Nietzsches, die er übriggelassen hatte, zum Verpacken von Lebensmitteln in seinem im Hause befindlichen Kolonialwarenladen, indem er Tüten daraus formte und den Kunden die gekauften Dinge hineinlegte. Ein Bergführer, der ein heiterer und geselliger Mann war, Vorträge über Alpinismus in Schweizer Städten hielt und auch schon einmal in Amerika war, ist auf diese Weise zu einem Manuskriptstück Nietzsches mit dem Titel «Über Selbstmord» gelangt. Alles in allem war das Haus der Familie Durisch in Sils Maria wohl die letzte und vielleicht auch die einzige schöne Häuslichkeit, die Nietzsche erlebte. Dem Töchterchen Adrienne bestellte er aus Naumburg ein artiges Geschenk, pünktlich zur Einschulung. Er hat nicht mehr mitbekommen, dass Adrienne als 20-Jährige an Tuberkulose starb, woraufhin ihr die Mutter bald nachfolgte. Durisch starb hochbetagt in einem Churer Altenasyl.
Nietzsche hatte Sils Maria einst als den Ort bezeichnet, an dem er einmal sterben wolle. Aber sein physischer Tod erfolgte in Weimar, und geistig starb er 1889, elf Jahre zuvor, in Turin. Es war in den ersten Januartagen. Weihnachten, immer mit Schrecken erharrt, war vorbei. Die wüsten Briefe, die er Ende Dezember und Anfang Januar an alle möglichen Adressaten schrieb, zeugen von einer manischen Stimmung, nahtlos umkippend in völligen Wahn. Gott Dionysos kam nun endlich zu seinem Recht. Als seine Zimmerwirtin beim Professore undefinierbaren Lärm hörte, sah sie durchs Schlüsselloch, und da konnte sie sehen, wie Nietzsche nackt tanzte. Erst der Wahnsinn hat seinen Lebensgott aus der Erstarrung gelöst. Erst als Kranker kann er ihn leben, seinen heiligen Rausch.
«Dionysos gegen den «Gekreuzigten:», schreibt er, «da habt ihr den Gegensatz. Im ersten Fall soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden. Er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen – der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.»
Anfang Januar trat Nietzsche aus seiner Turiner Wohnung an der Piazza Carlo Alberto. Als er sah, wie ein Droschkenkutscher auf sein Pferd einschlug, fiel er dem Tier um den Hals und brach schluchzend
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