Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
zusammen. Fino, sein Zimmerwirt, der einen Zeitungskiosk an der Piazza besaß, brachte den Professore schließlich nach Hause, von einer Menschenmenge umringt.
Dionysos-Dithyramben, entstanden zwischen dem 1. und 3. Januar in Turin, teilweise erstmalig, teilweise aus dem Fundus geholt:
Nur Narr! Nur Dichter
Unter Töchtern der Wüste
Letzter Wille
Zwischen Raubvögeln
Das Feuerzeichen
Die Sonne sinkt
Klage der Ariadne
Ruhm und Ewigkeit
Von der Armut des Reichsten
«Dionysos-Dithyramben» , kommentiert der Verfasser, «– das sind die Lieder Zarathustras, welche er sich selber zusang, daß er seine letzte Einsamkeit ertrüge!»
Also starb Zarathustra.
Basel, Jena, Naumburg, 1889–1897
«Die drei großen Stimulantia der Erschöpften»
N ietzsche gestaltete das eigene Leben zum Kunstwerk, und er tat es im großen Stil, besonders aufs Ende hin: mit dem Pathos einer griechischen Tragödie, mit christlichem Märtyrergestus und mit moderner Allüre. Auch die Szene mit dem Droschkenpferd in Turin besitzt eine dramaturgische Einleitung, fiel dem Denker doch im vorangegangenen Sommer die Parabel vom Droschkenpferd ein, an dem ein Kutscher sein Wasser ablässt, was das gedemütigte Tier in der bitteren Kälte mit dankbarem Blick quittiert. So hatte die letzte Szene im letzten Akt seines Lebens bei Nietzsche auch eine literarische Vorgeschichte und Reminiszenz – neben der Dostojewski-Vorlage im Raskolnikows Traum («Schuld und Sühne»).
Die Freunde, die Nietzsches «Wahnsinnszettel» erhielten, waren nachvollziehbarerweise ratlos, entsetzt, konsterniert. Overbeck, aufgerüttelt von Jacob Burckhardt, schritt endlich zur Tat. Er nahm einen Nachtzug und kam am Nachmittag des 8. Januar nach 18stündiger Fahrt in Turin an, wo ihn ein bestürzendes Bild seines Freundes erwartete: «Ich erblickte Nietzsche in einer Sofaecke kauernd und lesen (…) entsetzlich verfallen aussehend, er (…) stürzt sich auf mich zu, umarmt mich heftig, mich erkennend, und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sofa zurück, ich bin auch vor Erschütterung nicht imstande, auf den Beinen zu bleiben. (…) Zugegen war die ganze Familie Fino. Kaum lag Nietzsche stöhnend und zuckend wieder da, als man ihm das auf dem Tisch stehende Bromwasser zu schlucken gab. Augenblicklich trat Beruhigung ein, und lachend begann Nietzsche vom großen Empfang zu reden, der für den Abend vorbereitet sei. Damit war er im Kreise der Wahnvorstellungen, aus dem er dann, bis ich ihn aus den Augen verloren, nicht wieder getreten ist, über mich und überhaupt die Personen anderer stets klar, über sich in völliger Nacht befangen. D.h., es kam vor, daß er in lauten Gesängen und Rasereien am Klavier sich maßlos steigernd, Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat, hervorstieß, und dabei auch in kurzen mit einem unbeschreiblich gedämpften Tone vorgebrachten Sätzen sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes vernehmen ließ, das Ganze auf dem Klavier gleichsam interpunktierend, worauf wieder Konvulsionen und Ausbrüche unsäglichen Leidens erfolgten, doch, wie gesagt, das kam nur vor in wenigen flüchtigen Momenten, soweit ich dabei gewesen, im ganzen überwogen die Äußerungen des Berufs, den er sich selbst zuschreibt, der Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu sein, und er, der unvergleichliche Meister des Ausdrucks, war außerstande, selbst die Entzückungen seiner Fröhlichkeit anders als in den trivialsten Ausdrücken oder durch skurriles Tanzen und Springen wiederzugeben.»
Nichts von diesem Wahn ist ohne Zusammenhang mit Nietzsches Denken und Leben. Es ist so etwas wie die letzte Stufe davon, verlagert in eine Innenwelt, die zum Außen keine Verbindung mehr hat. Der Erlöser von tausendjährigen Irrtümern kreuzigt sich selbst. Der freie Geist löst seine Bindung an alle Vorurteile der «Realität». Der Gottesüberwinder spielt schließlich selbst den Gott. Er hat die Welt neu geschaffen, indem er die Werte umkehrte. Der Zerbrecher der Tafeln, den keiner hören mag, reißt die Weltherrschaft an sich. Der unbefriedigte Geist, der seine Sinnlichkeit nicht zwischenmenschlich erleben kann, schlüpft in die Satyr-Rolle, die Verkörperung animalischer Triebe.
Die Lösung des Rätsels um Ariadne ist Cosima Wagner. Nietzsche stilisiert sich als jugendlichen Liebhaber Dionysos, der in die bestehende Ehe oder erotische Beziehung von Ariadne
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