Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Tragödie aus dem Geiste der Musik» von Friedrich Nietzsche, erschienen 1872, entstanden in den ersten drei Basler Jahren, zwischen Basel und Tribschen, Universitätsverpflichtungen und Wagner’scher Sphäre, Urlaubsaufenthalten in Kur- und Berggegenden mit Familie und Freunden, einsamen Rückzugsorten und einem Krieg außerdem, an dem sich Nietzsche beteiligte und der sein produktives Leben komplett unterbrach. Bismarcks herausfordernde Politik, die bei den Franzosen die Furcht vor einer preußisch-deutschen Hegemonie aufkommen ließ, hatte den Deutsch-Französischen Krieg ausgelöst. Nietzsche befand sich gerade in einem weltentrückten Gebirgstal, dem Maderanertal am Fuße des Gotthardmassivs, und schrieb eine Abhandlung über die dionysische Weltanschauung, als im Sommer 1870 das große Hurra, das Fahnenhissen für Preußen und Deutschland selbst hierher in die Einsamkeit drangen. Die Realitäten des Krieges, die sich Nietzsche als Reserveoffizier und frei williger Sanitäter aus der Nähe besah, nahmen seiner anfänglichen patriotischen Begeisterung sehr schnell die Spitze. Er hat die Schlachtfelder von Lothringen, mehr aber noch die Lazarette gesehen und sich irgendwann mit der Ruhr und der Diphtherie angesteckt, was seinen sensiblen Organismus nachhaltig schädigte. Nach diesem siegreichen Krieg, der 1871 mit der Reichsgründung endete, gelangte Nietzsche, der doch den Krieg im Heraklit’schen Sinne als Vater aller Dinge verstand, eine Veränderungskraft mit dem Potential einer kulturellen Dynamik, zumindest zu einer gewissen Diskrepanz in der Anschauung. Und vielleicht hatte man als Geistesmensch doch eine etwas andere Sicht auf die Dinge? Nach der Niederschlagung des Pariser Kommuneaufstandes war die Nachricht nach Deutschland gedrungen, Paris sei in Flammen, auch der Louvre, alles zerstört (was so nicht stimmte, zum Glück). Nietzsche war außer sich, während Wagner, bei dem er gerade zu Besuch weilte, seine großen Erneuerungsvisionen verwirklicht sah, also wirkliche dionysische Umwälzung. «Wenn ihr nicht fähig seid, wieder Bilder zu malen, so seid ihr nicht wert, sie zu besitzen» , polterte er. Nietzsche dagegen, tieferschüttert, kommentierte nur, für den Gelehrten höre die ganze Existenz auf bei solchen Ereignissen. Er musste sich überhaupt von den Wagners schon etwas absetzen. Sie missbrauchten ihn als Botengänger und Korrekturleser, Einkäufer, Bücherbeschaffer und Archivar, den Professor mit seinem ohnehin schon randvollen Stundenplan, der kaum zu bewältigen war, als er im Pädagogium auch noch einen erkrankten Kollegen vertrat. Weihnachten musste er in Basler Spielwarenläden die Geschenke für Wagners Kinder besorgen, gleichzeitig die Druckfahnen von Wagners Autobiographie überprüfen. Man rechnete fest mit ihm, plante ihn ein. Nietzsche hat sich aus der Vereinnahmung mühevoll gelöst, und schon war man in Tribschen pikiert, wenn er nicht immer kam wie erwartet. Man diskutierte gemeinsam ästhetische Fragen; Nietzsches Frühwerk ist ohne die Wagner’schen Einflüsse und Anregungen kaum denkbar in seiner Form, und so widmete Nietzsche auch seine «Geburt der Tragödie» Richard Wagner mit einem Vorwort. Mehrere Einzelabhandlungen, die Nietzsche in Basel als öffentliche Vorträge hielt, haben das Werk vorbereitet: «Das griechische Musikdrama», «Sokrates und die Tragödie» sowie die zu Kriegsbeginn in montaner Abgeschiedenheit verfasste «Dionysische Weltanschauung». Im rückblickend verfassten «Versuch einer Selbstkritik» kommentiert Nietzsche die Entstehungsbedingungen seines Tragödienbuchs: «Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen, saß der Grübler und Rätselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zuteil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen nieder. […] Einige Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen ‹Heiterkeit› der Griechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte; bis er endlich, in jenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über den Frieden beriet, auch mit sich zum Frieden kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die ‹Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik› letztgültig bei sich feststellte.» Griechische Kunst, mit der Philosophie
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