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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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unzeitgemäß im schönsten Sinne.» Es war wie ein Traum, Nietzsches Wochenenden in Tribschen, die er auch heilig hielt, als er mit der «Wagnerei» längst gebrochen hatte. Die Tage in Tribschen, sagte er, wolle er in seinem Leben nicht missen. Ist es ein Wunder, dass er hier, bei dem Vollblut-Künstler, dessen musikalisches Werk ihn so ansprach, alles das suchte und fand, was seine kühnen Visionen von einer Kunst, die das moderne Leben erlöste, ihm den Mythos zurückbrachte, die Schöpfungskraft und die Begeisterung, die schließlich auch die Philisterei überwand, wiedergeborenes Griechentum war im modernen, deutschen Gewand? Die traumhaft schöne Natur am Vierwaldstättersee um das Landgut herum kam in diesem Sommer 1869 dazu, Cosimas Gegenwart und ein Familienleben auf bisher unbekannte, da künstlerisch unkonventionelle Art. Wagner selbst hatte den jungen, begabten und enthusiastischen Freund längst in seinen Schöpfungsplan eingebaut, und er wusste, wie er ihn sinnvoll einsetzen konnte. Solche Dinge waren bei ihm ein Automatismus; Wagner pflegte keine selbstzweckartigen Freundschaften. Er konnte den Exegeten lebendigen Griechentums, der an den Quellen saß, für sich arbeiten lassen, und als Jünger würde dieser an der Verbreitung seines Ruhms mitwirken, das Gesamtkunstwerk «Wagner» gestalten und in die Welt tragen. Nietzsche war blind in dieser Anfangszeit, blind vor Anbetung und blind vor Glück. Deussen gegenüber bezeichnete er Wagner als «den größten Genius und größten Menschen dieser Zeit, durchaus incommensurabel!» , und in einem Brief an Carl von Gersdorff äußerte er die nicht mehr zu übertreffenden Sätze: «In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabener Lebensernst, dass ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle» . Solche Hingabe bei einem ebenfalls Großen, der sich zur reinen Gefolgschaft sicher nicht eignete, konnte nicht gut gehen. Es war eine gefährliche Konstellation. Der seelisch so verwundbare und im Leben so wenig verwurzelte Nietzsche, dessen schneller und früher Ruhm auch nicht gerade zur Festigung der Persönlichkeit beigetragen hatte, war begierig nach Erdung und Halt, Entgrenzung auch, jedoch nur ästhetisch, und hier fand er den Vater und den verlorenen Gott, Kunst, Musik, die Verkörperung seiner Zukunftsvision, die Mutter und die imaginäre Geliebte, unerreichbar für ihn wie alle Frauen, und im Augenblick war er froh, hier einfach nur Teil an allem zu haben, Tür an Tür mit dem Meister und seiner Kompositionswerkstatt und außerdem in einer reizvollen Häuslichkeit. Selbst das Kindergewirr nahm er da hin, zwei Papageien, zwei Neufundländer sowie zwei Pfauen mit den Namen «Fricka» und «Freia». In dieser Menagerie hat man sich auch einen Philologen gehalten. Nietzsches Tätigkeit als Basler Professor schien Wagner, was den Zeitaufwand angeht, nicht sehr hoch zu veranschlagen, wenn man bedenkt, wie er ihn in den kommenden Monaten einspannte. Bereits in einem seiner ersten Briefe aus Tribschen machte er ihm einen Ankunfts- und Abreiseplan: samstags ankommen, Montag früh abreisen; jeder Handwerker könne das, also wohl erst recht ein Professor – eine unüberhörbare Indezenz, die einiges ankündigt, wie der Maestro sich Nietzsche gegenüber positionierte. Sein Basler Gelehrtendasein erschien dem Professor allerdings selbst immer schemenhafter, je öfter er sich in der Kunstwelt der Tribschener im Dunstkreis des Meisters bewegte und diese Luft förmlich einatmete. Der Kontrast machte ihm immer deutlicher, dass das, was er tat, nicht das war, was er wollte, und es würde nach diesen Sommertagen in Tribschen nur noch ein halbes Jahr dauern, bis er an Rohde schrieb: «Die Philologenexistenz in irgendeiner kritischen Bestrebung, aber 1000 Meilen abseits vom Griechentum wird immer unmöglicher.» Griechentum, sein Griechentum hatte mit dem, was er als Basler Professor erforschen und lehren sollte, wenig zu tun. Er glaubte, dass Wagner ihn da verstand – und überhaupt: Wollten sie nicht beide dasselbe? Wagner hatte sich in seiner 1850 erschienenen Schrift: «Das Kunstwerk der Zukunft» gegen die derzeit herrschende Übermacht der Abstraktion und der Mode erklärt und ein Kunstwerk beschworen, das als «unmittelbarer Lebensakt» zu verstehen ist. «Die Wissenschaft» , so einer seiner wuchtigen Sätze, «trägt […] die Sünde des Lebens, und büßt sie an sich durch ihre

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