Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Genelli «Bacchus unter den Musen», heute in der Dresdner Kunstsammlung zu sehen. Der hier abgebildete Bacchus wirkt naturgemäß weinselig und einigermaßen verlebt. Er ist ein ältlicher Lüstling mit schütterem Haar, vorgestrecktem, nacktem Bauch, seine Blöße gerade noch verdeckt durch ein Tuch, in obszöner Haltung, wenig graziös, wenig anziehend. Ein paar beflügelte Knaben umschwärmen ihn. Von den weiblichen Musen geht gar kein Reiz aus; sie sind züchtig wie Betschwestern und komplett verhüllt. Während sie den ältlichen Bacchus, vom Weine berauscht, tanzend, verzückt, mit seinen verdrehten Gliedmaßen fast nicht beachten, schauen sie umso mehr auf den schönen Apoll, einen herrlichen nackten Jüngling (leider nur von hinten zu sehen), der auf einem Schemel sitzt, das rechte Bein angewinkelt, einen Arm ausgestreckt, einen in Beugung. Das ist klassische Schönheit und klassisches Ebenmaß, Ausgewogenheit, Anmut. War das die Grundanschauung von Nietzsches apollinisch/dionysischer Weltsicht? Auf jeden Fall ist es eine schöne Illustration. In Creuzers «Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen», einem mehrbändigen Werk, das auch Nietzsche heranzog und das bei Wagners in der Bibliothek stand, wird Gott Dionysos in all seinen Erscheinungsformen und innerhalb der diversen Mysterienlehren geschildert – Nietzsches «fremder Gott», dessen Ursprung im Dunkeln liegt, der nicht zu den ursprünglich griechisch-olympischen Göttern gehört, sondern aus archaischer Zeit, von den Ureinwohnern Griechenlands stammt. Woher er kam, wer weiß es …? Thrakien, Kleinasien … Er besitzt nicht die Vornehmheit der olympischen Götter mit ihrem lässlichen Abstand zur Menschenwelt, denn er kommt selbst auf die Erde, um einen kultischen Dienst in seinem Namen zu fordern: Verzückung, Rausch, wilde Tänze, Ekstase. Wilde Tiere werden zerrissen und roh verschlungen. Das kultische Rohessen des Opferfleisches bei den Dionysos-Festen erinnert an den Gott selbst, der von den Titanen in Stücke gerissen wurde, um wieder aufzuerstehen, sich der Natur wieder in ihrer Vielheit zu geben. Dionysos ist die Vielheit, Apollo die Einheit. In der antiken Kosmogonie bedeutet das die Gegenläufigkeit des geordneten Laufs der himmlischen Körper in ihren Bahnen und des Zerstörungs- und Erneuerungswerks der Natur. So steht Dionysos selbst für Erneuerung. Der Dionysoskelch, auch Naturkelch genannt, ist zugleich der Becher der Weisheit, da er die Seele von einer Täuschung heilt und sie zu ihrem verlorenen Ursprung zurückführt. Die Seele vergisst «ihre höhere Natur, und tritt den Weg zu den irdischen Wohnungen an» (Creuzer), woraufhin sie erwacht aus der Vergessenheit und zur Sehnsucht nach Rückkehr. Nietzsche war fasziniert von Gott Dionysos, dem Vegetationsgott, dem Fruchtbarkeitsgott, die «Lust zum irdischen Daseyn» verkörpernd, «Geist der materiellen Schöpfung», der aber doch auch die Seelen auf ihrem zyklischen Weg wieder zum Himmel zurückführte, Elementenbeherrscher, Befreier, dem, der die Fülle bringt, Leben und Tod. Er ist aber auch zugleich der «leidende Gott» . Der Stier, der ihn bei den Festen vertritt, wird in Stücke gerissen; sein Gebrüll ist symbolisch für den Schmerz, den er selbst einst empfand. Ob das in-Stücke-Reißen im Zeichen der ekstatischen Vereinigung mit der Natur nicht in einer höheren Bedeutung eine Selbsthandlung ist? Dionysos wurde der Gatte der von Theseus verlassenen Ariadne, der kretischen Königstochter, die den Athenerkönig aus dem Labyrinth von Knossos hinausgeführt hatte – ohne sie hätte die Tötung des Minotaurus durch Theseus, der dann aus dem Labyrinth nicht herausfand, folglich gar keinen Sinn gehabt. Gott Dionysos also gewinnt Ariadne. Überhaupt wird Gott Dionysos von lauter leidenschaftlichen Frauen, rasenden Weibern, Mänaden, die ihm dienen, verehrt. Seine Bedeutung für den Philosophen F. Nietzsche liegt aber namentlich darin, dass er die schöpferischen Kräfte des Menschen zu steigern vermag. «Er ist also Vermittler atmosphärischer und tellurischer Grundkräfte», heißt es bei Creuzer, «und diess hängt mit seiner Eigenschaft eines orakelgebenden Gottes, eines BEGEISTERNDEN G ENIUS zusammen: darum ist dieser lösende und die Erdkräfte zum Himmel zurückführende Dionysos wieder der Schutzgott der Musiker und Dichter; er entfesselt die Phantasie der Dichter, und die Dramatiker heissen vorzugsweise des Dionysos Künstler.»
«Die Geburt der
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