Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Schopenhauers betrachtet, Wagners Gesamtkunstwerk in seiner Urform, der griechischen Tragödie, ein Plädoyer für die Tragödie, die im Grunde den leidenden Dionysos der Mysterien darstellt und allen wahrhaft empfindenden Menschen eine begreifbare Weltsicht ist, die Ablehnung des logoszentrierten, theoretischen Denkens und die Beschwörung einer «griechischen» Heiterkeit, die das Leiden nicht leugnete, aber sich über dieses erhob, Kunst als Erlösung am Ende, so wie sie’s vormachten, die älteren Griechen … – der «Grübler und Rätselfreund» beschreibt ein Hellenentum der ganz anderen Art. Nietzsche betonte in seinem Vorwort an Richard Wagner, dass dieser seinen Beethoven-Aufsatz verfasst habe, während er selbst an seinem Tragödienbuch saß. Das war ihm wichtig; er sah darin einen gemeinsamen Zug. Da es beiden ja schließlich um ein erneuertes Griechentum ging, eine zurückgewonnene Naivität für den sich selbst entfremdeten Menschen der Gegenwart, entwarfen beide auch das Modell einer griechischgermanischen Synthese der Kunst, die aber doch dem modernen Befinden gerecht werden konnte. Eine wiedererlangte Naivität, eine Naivität durch die Hintertür ist eigentlich keine mehr; bereits Schiller versucht eine «moderne» Lösung in seiner Begriffsbestimmung des Sentimentalischen. Es ist immer nur ein So-tun-als-ob, reflexiv, eingedenk eines Verlusts. Vorstellungen vom verlorenen Paradies, von Arkadien spielen da mit hinein – und ob es das jemals gab? Der moderne Künstler, so Wagner in seinem «Kunstwerk der Zukunft», schafft eine künstliche Totalität, indem er die Kunstmittel so arrangiert, dass sie sich gegenseitig durchdringen, aber auch gegenseitig verbrauchen, sprich aufheben. Wagner hält die Deutschen für prädestiniert für diese Zukunftsaufgabe, weil sie innerlich tief seien und reich an Formen – so reich, meinte er, dass sie jeder Form ihr Wesen einprägten, indem sie die Form von innen neu umbildeten, wodurch diese zum Schluss «von der Nötigung zu ihrem äußerlichen Umsturz bewahrt wird.» Weiter heißt es: «So ist der Deutsche nicht revolutionär, sondern reformatorisch; und so erhält er sich endlich auch für die Kundgebung seines inneren Wesens einen Reichtum von Formen, wie keine andere Nation.» Ludwig van Beethoven sei ein genuin deutscher Musiker: nicht gefällig, nicht sicher und leicht wie die Romanen, aber erhaben, tief, durchdringend. Er habe die Musik von den Banden der Mode befreit. «Nur aus dem Geiste unsrer Musik» könne die moderne Zivilisation neu beseelt werden. Und diese Aufgabe – eine Art neue Religion – sei nur dem deutschen Geist beschieden, also anders gesagt: Richard Wagner. Friedrich Nietzsche hat das damals ekstatisch bestätigt. Doch in seinem Tragödienbuch über Griechenland, über den griechischen Geist und die Möglichkeiten für seine produktiven Adepten, macht er eine Bestandsaufnahme, die noch ganz andere Dimensionen erfasst.
Nietzsche räumt auf mit dem klassisch-ausgewogenen Bild der Antike und ihrer Götterwelt, vor allem aber mit einem christlichen Blick auf diese Welt. «Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmutig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphierendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.» J ENSEITS VON G UT UND B ÖSE triumphiert dieses Dasein, nur für sich selbst stehend, sinnlos und zweckfrei, ziel- und erkenntnislos, außermoralisch. Der Grieche, so Nietzsche, kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins. Um überhaupt leben zu können, musste er die glänzende Traumgeburt der olympischen Götter entwerfen. Ihr ungeheures Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, die über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, der Geier des großen Menschenfreundes Prometheus, das Schreckenslos des weisen Ödipus, der Geschlechterfluch der Atriden, der Orest zum Muttermord zwingt, alles das wurde von den Griechen durch ihre künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend und immer neu überwunden, zumindest verhüllt und dem Anblick entzogen. «Um leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen.» Dieses zum
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