Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Erlösungsbedürfigkeit des Menschen, sein Bedürfnis nach tragischer Kunst wurde und seither immer war – die Wiedergeburt der Tragödie, die den heutigen «theoretischen Menschen» erlöste, ließ nach wie vor auf sich warten. Aber zum Glück gab es ja Richard Wagner! Wenn das Folgende kein Plädoyer für ihn ist aus dem Mund seines Anhängers (und schon der eingeschobene Stabreim beweist es), was ist es dann? «Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte Kultur, wenn sie der dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rote Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung ans goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermeßlich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses Überflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwermütigen Gesange – er erzählt von den Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. – Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Efeu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!»
Friedrich Nietzsche mit Bowler-Hut, 1871.
Auf der Titelvignette der «Geburt der Tragödie» war der entfesselte Prometheus zu sehen. Der Autor der Schrift hatte sich losgerissen von Traditionen, von Autoritäten, von den ungeschriebenen Gesetzen der philologischen Wissenschaft, von Übereinkünften seiner Kultur. Selbst Richard Wagner, beileibe kein Verfechter der Konvention oder von Drückebergerei jeglicher Art, murmelte, der Freund solle aufpassen, dass er sich nicht den Hals breche. Die Reaktionen der Freunde auf Nietzsches Schrift waren verhalten. Selbst Ritschl antwortete erst lange Zeit gar nicht und dann mit deutlicher Distanzierung. Was war nur aus seinem Lieblingsschüler geworden? Ein glühender Wagner-Adept, ein Verführter, der keine Grenzen mehr kannte. In seinem Notizbuch stand über Nietzsche schlicht: «Größenwahn» sowie «geistreiche Schwiemelei» . Im Mai 1872 erschien eine Streitschrift von einem ehemaligen Schulpfortaer Mitschüler Nietzsches, allerdings vier Jahre jünger und gerade erst frisch promoviert. Der junge Wissenschaftler, der es noch zu hohen philologischen Ehren brachte, nahm das Pamphlet wohl auch als Gelegenheit, sich eine weitreichende Publizität zu verschaffen. Der Mann hieß Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, und seine Schrift trug den Titel: «Zukunftsphilologie! Eine Erwiderung auf Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie». Dass er darin alle Buchstaben klein schrieb, verlieh der Schrift schon rein optisch eine polemische Modernität und Herausforderung – wenigstens fiel es auf, was es auch sollte. Der Herr Professor, hieß es da, solle von seinem Katheder herabsteigen wegen erwiesener Unfähigkeit. Nietzsche habe den Homer nicht verstanden, die «eben durch ihre jugend und natürlichkeit jedes unverdorbene herz erquickende […] homerische […] welt» , er habe Winckelmann nicht gelesen, verstehe den Euripides nicht, habe Daten bewusst durcheinandergeworfen, um seine haltlosen Thesen fundieren zu können, ignoriere die Forschungen der letzten Jahre und kenne sich auch nicht aus in der Archäologie. Der Autor nahm Nietzsche die Zertrümmerung seines gewohnten schönen Griechenlandbildes sehr übel, als da waren: Ausgeglichenheit, Harmonie, Unverdorbenheit, jauchzender Lebensgenuss. Diesem Volk des Frühlings also dichtete dieser Scharlatan eine pessimistische Mentalität, eine greisenhafte Sehnsucht nach dem Nichtsein und am Ende noch bewussten Selbstbetrug an? Das war die Höhe. «hier löschte man die offenbarung der philosophie und religion aus, damit ein verwaschener pessimismus in der öde seine sauersüße fratze schneide; hier schlug man die götterbilder in trümmer, mit denen poesie und bildende kunst unseren himmel bevölkert, um das götzenbild Richard Wagner in ihrem staube anzubeten.» Also: Der Maestro stand immerhin in
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