Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
seiner eigenen Geistesentwicklung. Es ist sicher richtig, dass die Wagners ihn zu sehr vereinnahmten und sich schließlich auf indiskrete Art in sein Gefühls- und Intimleben einmischten. Es ist auch richtig, dass Nietzsche sich für das Bayreuther Unternehmen nicht angemessen positioniert und gewürdigt sah – als geistiger Weggefährte und Wegbereiter, der am theoretischen Überbau dieses kulturellen Großprojekts wesentlich mitwirkte und dadurch auch etwas Prominenz mitnehmen und ein würdiges Podium für sich beanspruchen konnte –, nicht zu sprechen von seiner unglücklichen Verehrung Cosima Wagners und seinem Befremden hinsichtlich des Bayreuther Publikumstheaters sowie Wagners sonderbarer Metamorphose, die immer deutlicher wurde. Es ist aber vollkommen klar, dass die Wege, die sein Denken jetzt nahm – und es wurde durch die rätselhaften Krankheitsschübe, die ihn ab 1873 heimsuchten, prononciert und verschärft –, mit dem Wagner’schen Selbstverständnis, seinem großangelegten Kulturunternehmen, seinem Sendungsbewusstsein und seiner Weltanschauung nicht mehr konform gingen.
Im Sommer 1873 hat Nietzsche, halbblind nach einer Phase von Anfällen mit heftigen Kopf- und Augenschmerzen, seinem Freund Gersdorff eine kleine Abhandlung in die Feder diktiert, die einen Wendepunkt kennzeichnete und vieles ankündigte, was er in seinem Spätwerk ausbauen sollte. Sie hieß: «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn» und ist eine Art Propädeutikum zur Freigeisterei, eine erkenntnistheoretische und sprachkritische Grundlagenschrift, in der es dem Philosophen darum zu tun war, dem menschlichen Intellekt, unmäßig überschätzt im Laufe seiner selbstreflektierenden Historie, jeden Anspruch auf objektive Wahrheit abzusprechen, da er auf Täuschung und Widersprüchen beruhe. «In irgendeinem Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls», beginnt sie, «gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‹Weltgeschichte›: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt.» Unbegreiflich geradezu sei der Trieb des Menschen zur Wahrheit, da der Intellekt schließlich ein Mittel zur Erhaltung des Individuums sei und als solcher seine Hauptkräfte in der Verstellung entfalte. Um einen «bellum omnium contra omnes» durch einen Friedensschluss zu beenden, seien Konventionen entstanden, die im Wesentlichen auf sprachlichen Konventionen beruhten. Nietzsche: «Die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit.» Bei diesen Sprachsetzungen handele es sich aber keineswegs um den adäquaten Ausdruck der Realitäten oder um eine Deckung der Bezeichnungen und der Dinge, sondern um reine Übereinkunft, sprich: um Metaphern, die ihren anthropomorphen Ursprung nur sehr schlecht verhüllten. «Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der Gewissheit! Wir reden von einer Schlange: die Bezeichnung trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges!» Der «Sprachbildner» bezeichne lediglich die Relationen der Dinge zu den Menschen und nehme zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hilfe. «Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.» Die
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