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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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Willkürlichkeit solcher Zuordnungen in der sprachlichen Sphäre, die ja die «Wahrheit» repräsentiert, führt unweigerlich zu dem Schluss, dass auch die Wertsetzungen, die das Zusammenleben der Menschen verbindlich machen, ebenso austauschbar sind wie ihre Benennungen. Der Begriff «Blatt», die Vorstellung evozierend, es gäbe irgendwo eine allen gemeinsame Urform davon, ist ebenso durch Gleichsetzen des Nichtgleichen (also sprich: aller einzelnen Blätter) entstanden wie eine «qualitas occulta» mit dem Namen «die Ehrlichkeit», die aus dem Zusammenzug zahlreicher ungleicher Handlungen mit einem mehr oder weniger willkürlichen gemeinsamen Nenner erwuchs. «Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.» Die «Lüge» aber, die die Sprache, da sie rhetorisch ist, unweigerlich sein muss, ist dem Menschen, wie der Autor meint, gar nicht so unwillkommen, wie man vermuten würde. Wie steht es also nach Nietzsche um die berühmte Wahrheitssuche des Menschen? Gegen die reine folgenlose Erkenntnis, so Nietzsche, sei der Mensch gleichgültig, gegen die schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar außerordentlich feindlich gestimmt. Er begehre lediglich die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit. «Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zuschaden und feiert dann seine Saturnalien.» Dieses Menschenbild und diese Fundamentalkritik, die auf einer Metaebene ansetzt und das ganze System aus den Angeln hebt, reißt jeden Restbestand von Idealismus mit der Wurzel aus, da die Lüge, vor allem aber der Selbstbetrug, im System liegen.
    Zum Schluss seiner Abhandlung stellt Nietzsche den vernünftigen und den intuitiven Menschen, also zwei Welthaltungen nebeneinander. Dort, wo der intuitive Mensch, etwa im alten Griechenland, siegreicher ist als sein Gegenpart, könne sich im günstigsten Fall eine Kultur gestalten und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen. Zur Abwehr des Übels ernte der intuitive Mensch, so Nietzsche, von seinen Intuitionen eine «Erhellung, Aufheiterung, Erlösung» (eine Wagnersche Formel). Nietzsches Abhandlung ist eine Übergangsschrift, ihre Endaussage ist noch den alten Konzepten verwachsen und weiß nicht so richtig, worauf sie hinaus will. Immerhin wird die Befangenheit des «Intuitiven», und wenn er auch künstlerisch mächtig sein mag, lebensvoll, hochpotent, im irdischen Schlamm, in den Niederungen des Elementaren entlarvt, da dieser Typus, im Leid ebenso unvernünftig wie im Glück, aus seinen Erfahrungen nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er einmal gefallen ist. Der stoische, sich durch Begriffe beherrschende Mensch hingegen, der nicht Erlösung und Aufheiterung sucht, sondern Wahrheit und Freiheit von Täuschungen, trägt im Unglück das Meisterstück der Verstellung ab wie der «Intuitive» im Glück. «Er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine Stimme.» Der letzte Satz dieser Abhandlung klingt wie eine Reminiszenz an das Bild, das von dem vierzehnjährigen Schüler Nietzsche erhalten ist, der seine schulische Anstalt verlässt und gemessenen Schrittes durch den Platzregen läuft. «Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon.» Antike Weisheit, so scheint es, ist in diesen Gedanken des Übergangs eine Art Palliativ gegen die obsolet gewordene Kunst eines egomanischen Zauberers, der den Anspruch hegt, mit seinen Werken die Welt zu erlösen. Im Kapitel über den freien Geist in seinem späteren Werk «Jenseits von Gut und Böse» heißt es bei Nietzsche: «Man muß wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.» Und: «Alles, was tief ist, liebt die Maske.» Die Maske mit dem würdigen Gleichmaß der Züge

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